Kapitel 8

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Ich stand noch immer regungslos da. Unfähig, irgendetwas zu tun. Sie stand nun direkt vor uns. Ihr Anblick schnürte mir die Luft zum Atmen ab. »Ella, wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen«, begrüßte sie mich und ich konnte nicht mehr klar denken. Ich brachte ein Lächeln zustande. Jedenfalls hoffte ich, dass es eins war. Sie streckte mir die Hand entgegen und als sich unsere Hände berührten, fühlte ich diese alte Vertrautheit zwischen uns. Meine Haut brannte an dieser Stelle. So schnell der Moment kam, so schnell war er auch wieder vorbei. »Hallo Frau Rosenthal«, sagte ich und meine Stimme klang heiser. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot. »Ja, es ist eine Weile her.« Sie nickte. Sie streckte Emilia ganz selbstverständlich die Hand hin, lächelte leicht und meinte: »Hallo.« Emilia erwiderte ihre Begrüßung und sah uns verdutzt an. Ich konnte ihre Neugier förmlich spüren. Ich nutzte den Moment, um sie zu betrachten. Sie hatte sich kaum verändert. Nur ihre Haare waren etwas länger und sie hatte einige Falten mehr bekommen, die sich zeigten, wenn sie lachte. Die machten sie aber nicht unattraktiver, ganz im Gegenteil. Sie trug einen kurzen Rock und eine weiße Bluse. An ihren Füßen erkannte ich Schuhe von der Marke Birkenstock. In ihren offenen blonden Haaren steckte eine Sonnenbrille. Jetzt fiel mir wieder auf, dass sie einen halben Kopf kleiner war als ich. Ihre Präsenz füllte den ganzen Raum aus. Es war, als würde man von ihr angezogen werden. Sie war der Mittelpunkt. Sie war mein Mittelpunkt.

»Wie geht es dir? Was machst du so?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihrem Mund. Als wäre nichts gewesen. Als wäre alles ganz normal. Aber das war es nicht. Ganz im Gegenteil. Diese Begegnung brachte meine ganze Welt durcheinander. Mein Herz klopfte so schnell, dass ich dachte, dass sich jeden Moment die anderen Kunden zu mir umdrehen und mir vorwurfsvolle Blicke zuwerfen würden. »Ich habe gehört, du bist in Berlin gelandet.« Ich nickte. »Ganz gut«, stotterte ich dann und beantwortete ihre erste Frage. Ich musste mich zusammenreißen. Ich wollte nicht wie eine Idiotin dastehen, aber ihre Nähe machte mich unfassbar nervös. So wie früher schon. Es erforderte volle Konzentration, mich nicht in ihren Augen zu verlieren, die mich tiefgründig ansahen. Ich ergänzte: »Wir haben das Studium vor einigen Tagen abgeschlossen und genießen jetzt unsere letzten Semesterferien. Im nächsten Monat fangen wir dann beide unseren Job an. Ich werde im Jugendamt arbeiten.«

»In Berlin oder hier in Stralsund?«, fragte sie neugierig. »In Berlin«, erwiderte ich. »Da habe ich eine gute Stelle bekommen.« Für einen Moment bildete ich mir ein, dass ein enttäuschter Blick über ihr Gesicht huschte. Wahrscheinlich war es nur Wunschdenken meinerseits. Ich sah mir ihre Hände kurz an. Sie trug noch immer keinen Ring. »Das ist schön. Das freut mich wirklich für dich.« Ich stellte ihr ebenfalls die Frage: »Wie geht es Ihnen? Sind Sie noch an der Schule?« Sie nickte. »Ja, aber die Schüler rauben mir manchmal die Nerven. Ich hätte gern noch eine Handvoll Schüler wie dich.« Frau Rosenthal lachte und ich musste lächeln. Sie konnte sich also doch noch gut an mich erinnern. Und sie wünschte sich Schüler, die wir ich waren? Es war nur ein Satz, aber er erfüllte meinen gesamten Körper. Er machte mich irgendwie stolz. »Ich war ihre Lehrerin«, vertraute Frau Rosenthal Emilia an, die bisher nichts gesagt hatte und nur unserem Gespräch gefolgt war. »Das habe ich mir gedacht«, erwiderte diese und sah sie aufmerksam an.

»Wie lange bleibst du?«, wollte sie wissen und wandte sich wieder mir zu. »Wir bleiben noch fast vier Wochen, bevor wir zurückfahren.« Sie betrachtete Emilia noch einmal kurz, dann gehörte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz mir. »Ist ja schön, dass ihr die Ferien zusammen verbringt. Ist immer etwas schade, wenn Freundschaften nach der Uni kaputt gehen. Sowas lässt sich manchmal nicht vermeiden. Ich spreche da aus Erfahrung.« Sollte ich ihr sagen, dass Emilia meine feste Freundin war? Wollte ich, dass sie es wusste? Warum fühlte ich mich plötzlich wieder so schlecht? Ich musste zu Emilia stehen. Aber bevor ich etwas sagen konnte, mischte Emilia sich ein: »Wir sind nicht nur Freunde.« Frau Rosenthal sah sie an und es ratterte in ihrem Kopf. Sie war irritiert. »Wir sind ein Paar«, meinte Emilia lachend, als sie ihr Gesicht sah. Jetzt war es raus. »Oh.« Mehr sagte sie nicht. Ihr Blick veränderte sich. Er war unergründlich. Was dachte sie? Als sie mich wieder ansah, lag eine Traurigkeit in ihrem Blick, die mich schlucken ließ. Dann war sie verschwunden und sie meinte: »Herzlichen Glückwunsch. Ich wusste nicht, dass du Frauen liebst.« Es hörte sich mehr nach einer Frage an als nach einer Feststellung. Ich zuckte mit den Schultern. »In der Schulzeit gab es auch keinen Grund für mich, es irgendwie öffentlich zu machen.« Sie nickte nur, war plötzlich abwesend. »Ich muss dann auch mal weiter.« Auch ihre Stimme hatte sich verändert. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Woher kam dieser Stimmungswechsel?

Sie nickte uns kurz zu, dann steuerte sie den Ausgang an. Ich drehte mich noch einmal um und sah ihr hinterher, dann war sie verschwunden. Ich hasste mich dafür, dass ich ihr am liebsten gefolgt wäre. Sie löste in mir dieses ganz besondere Gefühl aus, für das es keine Worte gab. Ich fühlte mich wie ein ausgesetzter Hund. Viele verschiedene Gefühle strömten durch meinen Körper und prallten aufeinander. Es war unfassbar heiß und ich wusste, dass es nicht am Wetter lag. »Was war das denn jetzt für ein komischer Abgang?«, fragte Emilia mich irritiert. Sie empfand es also ebenfalls als merkwürdig? Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Lass uns gehen.« Ich drehte mich um und wollte nur aus diesem Laden verschwinden, aber Emilia hielt mich am Arm zurück. »Was?«, fauchte ich sie an und im nächsten Moment bereute ich es total. Ein unbekannter Ausdruck zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. »Gar nichts«, antwortete sie unterkühlt und ließ mich los. »Vergiss es einfach.«

Sie sah mich nicht mehr an, sondern starrte angestrengt auf die Bücher, die überall aufgestellt waren. Ich nahm ihre Hand. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anfahren. Du kannst nichts dafür.« Ihr Blick war wieder etwas versöhnlicher. »Für was kann ich nichts? Seitdem wir hier sind, bist du total anders. Ich habe das Gefühl, es ist egal, was ich mache. Du hast immer etwas daran auszusetzen.« Sie machte sich ihrem Ärger Luft und ich konnte es verstehen. Ich verhielt mich wirklich unfair. »Du kannst nichts für meine Launen.« Sie sah nicht zufrieden aus, aber ich konnte es ihr nicht verübeln. »Also diese Begegnung gerade war einfach nur... Ich weiß auch nicht. Ich finde gar keine Worte dafür«, meinte sie noch. Ich wusste, was sie meinte. Ich nickte. »Sie war also deine Lehrerin?«, fragte sie nach und wieder nickte ich. »Ja, ich hatte sie in Musik und Deutsch.« Emilia erwiderte: »Auch wenn sie anscheinend echt etwas schräg ist: Hübsch ist sie ja, wenn ich das so sagen darf.«

Mein Herz fing wieder an zu klopfen. Sie fand sie hübsch? Es bedeutete mir irgendwie viel, dass sie das sagte. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen. »Ja, sie sieht ganz gut aus.« Erwartungsvoll sah sie mich an. »Was?«, fragte ich. Hatte ich etwas Falsches gesagt? »Was ist mit deinem Buch? Oder wollen wir beide noch länger hier stehen?« Ach, das Buch. Das hatte ich durch die Begegnung mit Frau Rosenthal völlig vergessen. »Nein, ich hole es schnell.« Nachdem ich es bezahlt hatte, verließen wir den Laden. Auf dem Rückweg musste ich immer wieder an Frau Rosenthal denken. Ich hätte gern noch etwas länger mit ihr gesprochen, aber wahrscheinlich war es gut, dass das Gespräch so schnell vorbei war. Ich wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, ihr wunderschönes Lachen zu sehen und in ihre Augen zu schauen. Es war gemein von mir, dass ich so dachte, oder?

Emilia ging schweigend neben mir. Ich wollte gerade nicht reden und hing meinen Gedanken nach. Ich musste mich zusammenreißen, sonst endete dieser Besuch hier in einem einzigen Chaos. Emilia war die Frau an meiner Seite. Es konnte doch nicht sein, dass ich trotzdem die ganze Zeit an eine andere Frau dachte. Es war falsch. Doch ich realisierte, dass Frau Rosenthal mir noch immer mehr bedeutete als ich zugab. Ich vermisste sie. Tat ich das wirklich? Ich war viel zu aufgewühlt, um meine Gedanken zu ordnen. Deshalb war ich auch froh, als wir endlich zu Hause ankamen. Ich brachte meiner Mama die Sachen in die Küche. Plötzlich fühlte ich mich total erschöpft. Ich hatte Kopfschmerzen und wollte einfach nichts mehr denken oder fühlen. »Sei mir nicht böse, aber mir geht es nicht so gut. Ich werde mich etwas hinlegen. Kannst du mich zum Abendessen wecken? Ist das in Ordnung für dich, wenn ich dich etwas alleine lasse?« Emilia nickte. »Soll ich dir etwas bringen?« Ich schüttelte den Kopf. Ich brauchte einfach nur etwas Ruhe. »Ich setze mich etwas nach draußen«, meinte sie und gab mir einen Kuss. Ich ging nach oben und legte mich ins Bett. Es war noch immer heiß draußen, aber mir war kalt. Hatte ich Schüttelfrost? Es fühlte sich fast so an. Ich zog mir die Decke bis unter das Kinn und innerhalb weniger Sekunden schlief ich ein.

»Hey, aufstehen«, weckte Emilia mich sanft und strich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Als ich die Augen öffnete, brummte mein Kopf noch immer und ich fühlte mich schlechter als vorher. »Das Essen ist fertig.« Ich setzte mich auf und es fühlte sich an, als wäre an meiner Brust ein schweres Gewicht befestigt, welches mich nach unten zog. »Geht es dir besser?« Unschlüssig nickte und schüttelte ich den Kopf zugleich. Wir gingen nach unten und aßen, aber meine Laune wurde nicht besser, deshalb gingen wir früh ins Bett. Auch Emilia war etwas erledigt vom Tag.

Als wir schließlich im Bett lagen, dachte ich nur, wie schön eine Hütte ganz weit weg von hier wäre. Mit Kamin, genug Holz, Essen und Getränke für eine Woche. Oder für ein Jahr. Kuscheln, nackt umher tanzen und durch die Wälder, die ringsherum lagen, spazieren. Zum Glück schlief Emilia schon, sodass sie nicht mitbekam, wie die Tränen über meine Wange flossen. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Ich hatte sie angelogen und ich tat es noch immer. In meiner Vorstellung begleitete nicht Emilia mich, sondern Frau Rosenthal. Die Erkenntnis brachte mich nur noch mehr zum Weinen.

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt