Kapitel 1

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Mit einem mulmigen Gefühl saß ich am Berliner Hauptbahnhof. Es war mitten im Sommer, aber hier unten am Gleis war es sehr kühl. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, aber es war in diesem Moment ganz angenehm. »Das gibt es doch nicht«, schimpfte meine Freundin Emilia. »Die können doch nicht jedes Mal zu spät kommen. Ich könnte ausrasten.« Sie verzog das Gesicht und sah mich an. Ich zuckte nur mit den Schultern. »Die Bahn wird gleich kommen«, versuchte ich, sie zu beruhigen. Aber sie war ganz außer sich. So kannte ich sie gar nicht. Normalerweise war sie die Ruhe in Person. Ich stand auf und schloss sie in meine Arme. »Was ist denn heute mit dir los?«, wollte ich wissen und schaute ihr in die Augen. »Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht. Ich bin vielleicht etwas aufgeregt«, gab sie offen zu. Ich zog meine Augenbrauen nach oben. »Aufgeregt? Warum das?«, fragte ich nach und sie verdrehte die Augen. »Man, Ella. Ich werde heute endlich deine Eltern kennenlernen. Wir sind jetzt schon fast ein ganzes Jahr zusammen, da wird es doch wohl mal Zeit.«

Sie hatte recht. Wir besuchten immer nur ihre Eltern. Ich hatte mir bisher immer eine Ausrede einfallen lassen, warum wir nicht zu meinen Eltern fahren konnten. Aber nun hatte ich keine. Wir hatten uns vor 1,5 Jahren im Studium kennengelernt, weil wir den gleichen Kurs belegt hatten. Ich weiß es noch ganz genau. Wir hatten beide den Kurs »Sozialrecht« besucht und sie hatte mit einem breiten Lächeln gefragt, ob der Platz neben mir noch frei war. Seit diesem Moment fand ich sie toll. Ihre braunen Rehaugen hatten es mir angetan, sie machten mich schwach. Sie war nie besonders schüchtern gewesen, immer sehr direkt und geradeaus. Vorher war sie mir nie aufgefallen, obwohl wir da schon eine Weile zusammen studierten. Es entwickelte sich zu einer Routine, dass sie sich zu mir setzte. Wir redeten die ersten Male nicht besonders viel. Ich war tatsächlich etwas zurückhaltend, obwohl ich so eigentlich gar nicht war. Aber es lag an ihr. In ihrer Nähe war ich etwas schüchtern. Ich wollte nichts Falsches sagen. Irgendwann hatte sie mich einfach nach einem Date gefragt. Ich war total erstaunt. Woher wusste sie, dass ich auf Frauen stand? Ich hatte es zu diesem Zeitpunkt noch nie jemandem erzählt. Als ich sie das später fragte, musste sie lachen. Sie sagte: »Ach, Ella. Man merkt dir das an, wenn du jemanden toll findest. So wie du einen ansiehst. Das hat alles gesagt.« Stimmte das? War es wirklich so offensichtlich? War ich ein offenes Buch? Nun hatten wir das Studium vor einigen Tagen erfolgreich abgeschlossen und genossen noch fünf Wochen lang unsere letzten Semesterferien, bevor wir dann unseren Job anfingen. Emilia würde als Schulsozialarbeiterin in einer Grundschule arbeiten und ich im Jugendamt.

Jetzt bestand sie darauf, zu meinen Eltern zu fahren. Ich musste nur bei dem Gedanken daran schlucken. Sie hatten mich des Öfteren besucht, aber ich war im ganzen Studium nicht ein einziges Mal zu Hause gewesen. Ich konnte es nicht ertragen, dass die Wunden wieder aufrissen. Sie hatten nie nachgefragt, aber insgeheim hatte ich das Gefühl, dass sie Bescheid wussten. Erst nachdem Emilia meine Freundin wurde, hatte ich mich geoutet. Es war für meine Familie kein Problem. Sie waren sehr offen, was das anging. Und sie freuten sich unheimlich darauf, endlich meine Freundin kennenzulernen. Sie kannten Emilia nur von Fotos. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass du dich gar nicht freust«, riss sie mich aus meinen Gedanken. »In diesem Thema warst du schon immer so komisch.« Ich hatte ihr nie die Wahrheit gesagt. Warum ich nach Berlin kam, warum ich meine Eltern nicht besuchte. Das war eine Sache, die nur mich etwas anging. »Doch, ich freue mich«, meinte ich und lächelte sie an. »Natürlich freue ich mich.« Sie küsste mich und strahlte über das ganze Gesicht.

Ich konnte es ihr nicht sagen. Oder ich wollte es ihr nicht sagen. Ich hatte lange nicht mehr an damals gedacht. Aber nun würde ich gleich in die Stadt fahren, in der alles angefangen hatte. Eigentlich war doch nichts dabei, dachte ich. Es waren über drei Jahre vergangen. Ich war darüber hinweg. Ich hatte mir hier in Berlin mein Leben aufgebaut und hatte eine tolle und kluge Freundin, die mich immer wieder zum Lachen brachte. Was wollte ich mehr? Doch trotzdem dachte ich jetzt an Frau Rosenthal. Nur allein der Name sorgte für ein merkwürdiges Gefühl in mir. Ich hatte ewig nicht mehr an sie gedacht. Sie war damals für vier Jahre meine Musik- und Deutschlehrerin gewesen und hatte mich durch das Abitur begleitet. Ich dachte an die Zeit zurück und sah plötzlich ihr Gesicht vor meinen Augen. Das Gesicht, das ich immer so geliebt hatte. Ich hörte ihre Stimme und schüttelte den Kopf, um sie loszuwerden.

»Ist alles in Ordnung, Schatz?«, fragte Emilia mich besorgt. »Ja, alles gut«, antwortete ich schnell. Dann schweiften meine Gedanken wieder ab. Ich war echt verliebt in sie gewesen. Frau Rosenthal war meine erste große Liebe gewesen und natürlich blieben meine Gefühle unerwidert. Ich hatte ihr nie etwas davon gesagt, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie es geahnt hatte. Wir verstanden uns immer sehr gut. Ich hatte gern etwas mehr in unser Verhältnis hineininterpretiert, aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es nur Wunschdenken war. Nach dem Abitur zog es mich weg. Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich kam nach Berlin. Und seitdem hatte ich sie nie wieder gesehen. Eine Freundin, die eine Stufe unter mir war, erzählte mir einmal, dass sie nach mir gefragt hatte. Aber mehr hatte ich von ihr nicht gehört. In der ersten Zeit durchforstete ich noch regelmäßig ihr Profil bei Facebook, aber irgendwann hörte ich auch damit auf. Dann kam Emilia in mein Leben und ich verliebte mich neu. Ich strich sie komplett aus meinem Leben.

Aber nun stand ich hier am Bahnhof und würde gleich in meine Heimatstadt Stralsund fahren. Stralsund war eine relativ kleine Stadt mit knapp 51.000 Einwohnern und alles dort erinnerte mich an sie. Oder vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Ich wusste nicht einmal, ob sie noch an der Schule unterrichtete oder dort lebte. Es ging mich auch nichts an. Ich hatte damit abgeschlossen. Endgültig. Ich war zufrieden mit meinem Leben und hatte alles, was ich brauchte. Ich wusste nicht, warum ich mir so viele Gedanken machte. Ich würde sie höchstwahrscheinlich nicht einmal sehen. Emilia unterbrach mich wieder: »Du musst mir unbedingt all deine Lieblingsorte zeigen.« Meine Lieblingsorte? Sofort dachte ich an meine alte Schule. Sie war früher mein Lieblingsort gewesen. Jeden Morgen war ich mit einem Lächeln auf den Lippen dorthin gefahren. Je näher ich dem Abschluss kam, desto trauriger wurde ich, weil ich wusste, dass ich es bald nicht mehr konnte. Dass ich sie bald nicht mehr täglich sehen würde und das hatte mich innerlich zerstört. Es hatte eine tiefe Traurigkeit in mir ausgelöst und ich wurde immer wütender auf sie, obwohl sie überhaupt nichts dafür konnte. Ich seufzte.

Emilia sah mich argwöhnisch an. »Du bist irgendwie komisch.« Ich wollte gerade antworten, da fuhr zum Glück die Bahn ein. Wir schnappten uns unsere Koffer und stiegen ein. Hier war die Hölle los. Aber was hatten wir auch erwartet? Die ganze Stadt war voller Touristen. Wir hatten Hochsaison. Wir ergatterten zwei Sitzplätze nebeneinander. Ich lehnte mich zurück. Emilia wusste, wie gern ich am Fenster saß, deshalb hatte sie mich zuerst durchgehen lassen. So war sie. Sie legte mir die Welt zu Füßen. Ich sah sie an. Sie war eine tolle junge Frau und sie sah unverschämt gut aus. Sie beobachtete gerade das Geschehen im Zug und schlug ihre langen braunen Haare über die Schulter, die ihr so gut standen. Ich nahm ihre Hand und küsste diese. »Ich liebe dich«, hauchte ich ihr zu und schob die Gedanken an Frau Rosenthal endgültig zur Seite. Sie hatte mich nicht zu interessieren. Emilia drehte sich in meine Richtung und lachte. »Ich liebe dich auch.« Dann setzte sich die Bahn in Bewegung.

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt