Kapitel 10

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Da stand ich nun. Frau Rosenthals Bild lag im Papierkorb und ich musste es akzeptieren. Emilia hatte recht. Was sollte ich auch mit diesem Foto? Es anstarren? Wie ein verliebter Teenager, der ich schon lange nicht mehr war? Was hatte ich davon? Gar nichts. So viel stand fest. Also ließ ich es endlich auf sich beruhen. »Ist jetzt wieder alles gut? Ich mag es nicht, wenn wir streiten.« Gespannt sah Emilia mich an und ich nickte. »Ja, na klar. Ich mag das auch nicht.« Ich mochte es wirklich nicht. »Was hältst du davon, wenn wir zum Abendbrot essen gehen? Du kennst doch sicherlich einige Restaurants hier«, schlug Emilia vor und küsste mich. Als wäre alles normal. Dabei fühlte ich mich überhaupt nicht normal. Es war, als wäre ich die letzten Tage in eine andere Rolle geschlüpft. Und nun steckte ich fest. »Das ist eine gute Idee«, antwortete ich gedankenverloren. Wir gingen beide nacheinander duschen. Als sie gerade im Bad war und ich das rauschende Wasser hörte, sprintete ich zum Papierkorb. »Lass es, Ella. Lass es einfach«, ermahnte ich mich selbst mit leiser Stimme, aber ich konnte nicht anders. Ich fischte das Bild aus dem Papierkorb und versteckte es schnell wieder unter der Matratze. Ich fühlte mich total ertappt und mein Atem wurde schneller. Ich musste mich beruhigen. Emilia durfte davon nichts mitbekommen.

Am Abend starteten wir und spazierten Hand in Hand die Sundpromenade Richtung Altstadt entlang. Es war noch hell. Ich hatte den Tisch zu 20 Uhr reserviert. »Sagst du mir jetzt endlich, in was für ein Restaurant wir gehen?«, bohrte sie nach. Emilia musste immer alles wissen. »Nein, du wirst es sehen«, hielt ich sie hin. Ich hatte mich für die Kron-Lastadie (10) entschieden. Es war ein Restaurant, welches mit regionalen Produkten arbeitete und das Bier aus Hamburg und sogar aus der Stralsunder Brauerei bezog. Früher war ich hier manchmal essen gewesen und ich hoffte, es schmeckte noch immer so gut. Emilia seufzte. »Gut, die letzten Minuten werde ich es wohl auch noch aushalten.«

Irgendwann standen wir vor dem Gebäude. Es war eine alte Bastion aus dem 17. Jahrhundert und ein sehr schönes Gebäude. Wir gingen zum Eingang und von dort musste man einer Wendeltreppe nach oben ins Restaurant folgen. Unten befand sich noch ein kleiner Laden, in dem man Souvenirs und andere Dinge erwerben konnte. Dieser hatte aber bereits geschlossen. Wir stiegen die Treppe hinauf und ich öffnete die Glastür, damit Emilia durchgehen konnte. Sie machte einen Knicks und lachte. »Vielen Dank.« Eine Kellnerin kam auf uns zu. »Wir haben reserviert. Auf den Namen Degermann«, erklärte ich und sie schaute in ihr Reservierungsbuch. »Möchten Sie draußen auf der Terrasse sitzen oder lieber im Wintergarten?« Ich ergriff das Wort: »Wir gehen lieber in den Wintergarten, oder? Nicht, dass es später zu kalt wird. Ich habe nur eine dünne Jacke dabei.« Emilia nickte und wir folgten der Kellnerin.

Wir setzten uns. Der Wintergarten war wirklich sehr gemütlich. Uns wurde jeweils eine Speisekarte in die Hand gedrückt und wir blätterten in dieser umher. Ich wusste, dass Emilia ganz gern mal Bier trank. Die Kellnerin kam zurück und fragte nach unseren Getränkewünschen und ich orderte deshalb den »Fritz-Meter« und Emilia sah mich fragend an. »Und ich hätte dazu noch eine große Cola.« Emilia bestellte ebenfalls eine. Als die Kellnerin verschwunden war, fragte sie neugierig: »Was ist denn der Fritz-Meter? Sage jetzt bitte nicht, dass das eine lange Wurst ist oder so.« Ich musste mir das Lachen verkneifen. Sie lag komplett falsch mit ihrer Vermutung. Kurze Zeit später erreichte uns der »Fritz-Meter« und Emilia strahlte über das ganze Gesicht. »Wie cool ist das denn?«, entfuhr es ihr und sie sah ihn neugierig an. Der »Fritz-Meter« war ein langes Brett, in dem 11 kleine 0,1 l Gläser standen. Sie waren mit unterschiedlichen Bieren gefüllt. Von hell bis dunkel. Von jeder Sorte gab es zwei Gläser. Nur von der einen Sorte gab es nur ein Glas. »So kann man ja die verschiedenen Biere probieren«, meinte sie euphorisch. »Auf so etwas stehe ich ja.« Das wusste ich. Warum sonst hatte ich es bestellt?

Etwas später kam auch unser Essen, welches wir bestellt hatten, als die Getränke kamen. Ich hatte ein Schnitzel mit Pommes und Salat bestellt. Der Salat war grandios. Das Restaurant benutzte irgendwie ein leckeres Dressing. Und Emilia hatte sich für einen Hähnchen-Burger entschieden. Ebenfalls mit Pommes. Wir probierten die Biere durch und aßen. Es war endlich mal wieder alles entspannt zwischen uns. Dachte ich jedenfalls. Mitten beim Essen fragte sie plötzlich: »Willst du wegen ihr nicht nach Stralsund fahren?« Ich verschluckte mich fast und musste husten. »Wie bitte?« Sie hatte ihre Gabel zur Seite gelegt und sah mich an. »Wegen Frau Rosenberg.« Ich korrigierte sie: »Thal.« Ihr Blick war nun fragend. »Sie heißt Rosenthal und nicht Rosenberg«, erklärte ich. Sie zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Dann eben so.« Ich wollte nicht über sie reden, aber Emilia würde mich nicht in Ruhe lassen. Deshalb gab ich zu: »Ja. Irgendwie schon. Ich bin damals nach Berlin gezogen, weil ich Abstand von ihr brauchte. Ich wollte sie nicht mehr sehen, weil sie meine Gefühle natürlich nie erwidert hatte. Und in Berlin hat sich alles verändert. Ich konnte sie loslassen und habe dich gefunden.« Ein leichtes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. »Aber das erklärt noch immer nicht, warum es jetzt ein Problem ist. Also das ist über... drei Jahre her?« Jetzt war ich es die, die mit den Schultern zuckte. »Keine Ahnung. Es sind die Erinnerungen, glaube ich.«

»Aber bist du dir sicher, dass sie nicht auch etwas für dich empfunden hat?«, fragte sie leise und beobachtete mich. »Das ist doch völliger Quatsch«, sagte ich leicht aufgebracht und schnappte nach Luft. »Sicher?«, hakte sie nach. »Ja, ich war ihre Schülerin. Wir haben uns nur im Unterricht gesehen und manchmal kurz danach geredet. Das war es. Wie kommst du auf so einen Unsinn?«, wollte ich wissen und mir wurde plötzlich ganz heiß. »Es war die Art, wie sie dich angesehen hat. Und dann ihr Abgang. Etwas zu theatralisch, wenn du mich fragst.« Stimmte das? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Emilia bildete sich da etwas ein. Wahrscheinlich war sie einfach nur eifersüchtig. Jetzt, da sie es wusste. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Natürlich fand ich ihren Abgang auch sehr merkwürdig, aber das hieß noch lange nicht, dass sie Gefühle für mich hatte. Vor allem war es über drei Jahre her. Da würde sie sich doch jetzt nicht mehr so verhalten. »Nein, du hast dir da etwas eingebildet«, tat ich ihre Theorie ab, obwohl sie mir insgeheim gefiel. Wir beließen es dabei.

Doch trotzdem fand ich jetzt keine Ruhe mehr. Wieder spukte Frau Rosenthal in meinem Kopf umher und ich hörte Emilia nicht mehr zu. »Erde an Ella«, sagte sie und wedelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht umher. Ich schreckte auf. »Was?«, fragte ich irritiert und sie musterte mich. »Ich habe dich gefragt, ob wir morgen noch an den Strand fahren wollen.« War es verwerflich, dass es mir egal war? »Können wir machen.« Ich bekam leichte Kopfschmerzen. Sie aß weiter und ich stocherte in meinem restlichen Schnitzel umher. Mir war der Appetit vergangen. Zum Glück hatte ich es schon fast aufgegessen. »Bist du satt?«, wollte Emilia wissen und ich nickte. »Ja, möchtest du noch ein Dessert essen?« Ich hatte an ein Schokoküchlein gedacht, aber sie antwortete mit einem verführerischen Blick: »Jetzt nicht, aber gern später im Bett.« Sie streichelte mir über die Hand und mich überkam der Fluchtreflex.

»Bin gleich wieder da«, keuchte ich und stand auf. Dabei riss ich fast mein Glas um, aber bekam es im letzten Moment noch gerettet. »Ich gehe kurz auf die Toilette.« Ich drehte mich um, ging und ließ sie alleine am Tisch zurück. Ich war etwas wackelig auf den Beinen unterwegs, denn mich überkam Panik und das Bier wirkte auch. Immerhin hatte ich fünf kleine Gläser getrunken. Ich ging wieder durch die Glastür und anstatt rechts die Treppe nach unten zu nehmen, ging ich gerade weiter und stand direkt vor den Toiletten. Ich betrat den Raum und sah zwei Toilettenkabinen. Die eine war gesperrt aufgrund einer Reparatur und die andere war besetzt. Ich musste nicht mal auf die Toilette, sondern brauchte nur einen Moment Ruhe. Ich stützte mich am Waschbecken ab und verharrte eine Weile. Dann drehte ich den Wasserhahn auf und spritzte mir kühles Wasser in das Gesicht. Es war gleich viel besser. Ich atmete tief ein und aus. Plötzlich bemerkte ich, wie mich jemand von hinten vorsichtig an der Schulter berührte. Ich hatte fest mit Emilia gerechnet, aber ich hatte die Frau auf der Toilette ganz vergessen. Ich drehte mich nicht um, sondern sah in den großen Spiegel und überrascht blickten wir uns beide an. Sofort erkannte ich diese grünen Augen, die wie Smaragde leuchteten. Sie gehörten Frau Rosenthal.

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt