Kapitel 14

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Ich musste nicht lange warten, denn kurze Zeit später kam schon die Bahn. Ich kaufte mir vorher beim Bäcker ein trockenes Brötchen und ein kleines Wasser. Irgendetwas musste ich essen. Auch wenn ich es wahrscheinlich sowieso nicht essen konnte. Ich ließ mich auf einen Sitzplatz fallen und schloss die Augen. Dann setzte sich die Bahn in Bewegung. Hatte ich mir das wirklich gut überlegt? Eigentlich nicht, aber es war die richtige Entscheidung. Ich musste mit Mara reden. Über das, was fast zwischen uns passiert wäre. »Ist hier noch frei?«, fragte ein Mann mich mit einem Lächeln im Gesicht und deutete auf den leeren Platz. Ich nickte stumm. Auch wenn ich keine Lust auf Gesellschaft hatte, konnte ich ihm den Platz nicht verwehren. Die Bahn war sonst ziemlich voll. Meinen Koffer hatte ich auf die Ablage oben gehievt und mein Rucksack stand zwischen meinen Beinen. Dort zog ich ein Buch hervor.

Ich musste schlucken. Es war das Buch, welches wir in Stralsund gekauft hatten. Ach, Emilia. Es tat mir alles so schrecklich leid. Sie hatte so etwas nicht verdient. Ich dachte an unsere guten Zeiten. Davon hatten wir verdammt viele gehabt. Bis Mara wieder in mein Leben kam. Was hatte diese Frau nur an sich? Warum verdrehte sie mir so heftig den Kopf, dass ich alles aufgab, was mir die letzten Jahre wichtig geworden war? Zwei Begegnungen und ein Bild hatten ausgereicht. Emilia oder Mara? Diese Entscheidung musste ich treffen oder sie taten es für mich. Vielleicht ging ich am Ende leer aus, aber ich hatte dann wenigstens versucht, eine Lösung zu finden. Ich konnte nicht länger zusehen, wie mich diese Ungewissheit kaputt machte. »Wo willst du hin?«, fragte der Mann mich und ich war völlig perplex. Ich drehte mich leicht in seine Richtung und zum ersten Mal betrachtete ich ihn genauer. Er war ein schöner Mann. Seine Figur war sportlich und er war dieser typische »ich-arbeite-den-ganzen-Tag-im-Anzug« Typ, auch wenn er jetzt ein T-Shirt und eine kurze Hose trug. Seine Augen waren blau und er hatte dunkle Haare. Die Frauen standen sicherlich Schlange bei ihm. »Ähm, nach Stralsund«, antwortete ich kurz angebunden. Ich fragte nicht nach, wohin er fuhr. Es interessierte mich eigentlich nicht. Ich wollte mich schon wieder abwenden, da erklärte er: »Ich bin übrigens Max.« Vielleicht sollte ich auf sein Gespräch eingehen. Vielleicht lenkte es mich etwas ab.

»Ich bin Ella.« Er lächelte. »Ella. Ein schöner Name. Und was gibt es in Stralsund? Willst du Urlaub machen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss dort etwas klären und möchte meine Familie besuchen.« Er merkte, dass ich nicht näher darauf eingehen wollte. »Und du? Wohin verschlägt es dich?«, fragte ich und wollte es doch wissen. »Ich fahre auch nach Stralsund. Zu meiner Freundin. Ich bin leider immer viel unterwegs durch meinen Job, aber freue mich schon sehr, sie wiederzusehen.« Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte wirklich zuerst, er möchte mich vielleicht anmachen, aber auch im weiteren Gespräch deutete er nicht einmal so etwas an. Er redete noch etwas über seine Freundin. Max musste echt verliebt sein. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass sie so einen tollen Kerl abbekommen hatte. Ich sagte es ihm und er bedankte sich dafür. »Würdest du sie kennen, dann könntest du das verstehen.« Er zwinkerte mir zu. »Hast du denn einen Freund?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber es gibt da jemanden, es ist nur wahnsinnig kompliziert.« Er nickte wissend, fragte aber nicht weiter nach. Max wusste, wann Fragen angebracht waren und komischerweise erheiterte er mich sehr. Die Fahrt verging wie im Flug.

»Also Ella, es war wirklich schön mit dir. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder«, meinte er und winkte mir noch einmal zu, dann war er mit einem Lachen verschwunden. Bei ihm hörte sich alles so leicht an. Wenn es von beiden Seiten aus klappte, war Liebe auch einfach. Wenn aber nicht, war sie kompliziert. Und wenn drei Personen beteiligt waren, war es einfach nur furchtbar. Vor dem Bahnhof wartete meine Mama schon am Auto auf mich. Sie schloss mich sofort in die Arme. »Es ist so schön, dass du wieder hier bist«, meinte sie und musste die Tränen zurückhalten. Sie freute sich wirklich darüber. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann legten wir meine Sachen in den Kofferraum und stiegen ein. Das letzte Mal war ich hier mit Emilia langgefahren. Zum Glück fragte meine Mama nicht nach ihr. Ich wollte gerade nicht über sie sprechen. »Papa freut sich auch«, verriet sie mit einem so herzlichen Grinsen, dass ich einfach lächeln musste. »Ich freue mich auch«, antwortete ich deshalb, dabei war ich mir noch nicht sicher, ob ich das wirklich tat. Immerhin wusste ich nicht, was passieren würde.

Als wir zu Hause ankamen, ging ich wieder direkt nach oben in mein altes Zimmer. Ich zog das Bild unter der Matratze hervor und setzte mich auf das Bett. Liebte ich sie wirklich noch immer? Konnte das sein? Aber was war das dann zwischen Emilia und mir? Das war nicht nichts. Es hatte auch etwas zu bedeuten. Ich starrte das Bild an. Eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten. Ich musste mutig sein und mit ihr sprechen. Ich fasste einen Entschluss. Wenn ich mich beeilte, konnte ich sie eventuell noch antreffen, wenn sie lange Unterricht hatte. Ich rannte nach unten und spürte die Aufregung in jeder Faser meines Körpers. Was sollte ich ihr sagen, wenn wir uns gegenüberstanden? Ich musste ihr sagen, wie ich mich fühlte. Was sie mit mir anstellte. »Mama, kann ich mir dein Fahrrad leihen?« Sie nickte und ich holte es aus der Garage. Dann radelte ich los. An der Sundpromenade entlang. Es fühlte sich an wie früher. Es war mein alter Schulweg. Ich stellte das Fahrrad vor der Schule ab. Noch war alles still, aber jeden Moment würden die Schüler herausströmen.

Ich wusste nicht, in welchem Raum sie Unterricht hatte und ob sie überhaupt noch da war. Ich kannte ihren Plan nicht. Im Gegensatz zu früher. Vielleicht war sie schon längst zu Hause. Aber ich musste es wenigstens probieren. Ich beschloss, einfach vor der Schule zu warten. Wenn sie noch da war, würde sie auf jeden Fall hier rauskommen. Ich wartete also. Nacheinander strömten die Schüler aus der Tür und ich sah in viele unbekannte Gesichter. Aber Mara fand ich nicht. Ich blieb noch stehen, wollte nicht zu früh aufgeben. Einige Schülergruppen standen noch vor dem Gebäude und unterhielten sich. Es war komisch, wieder hier zu sein. Wie gern ich damals durch diese Tür gegangen war und wie schwer es mir fiel, diese wieder zu verlassen. Im Gegensatz zu den anderen Jugendlichen, die froh waren, dass sie endlich Schulschluss hatten. Aber für mich bedeutete die Schule viel. Nur da konnte ich Mara sehen und ihr wenigstens etwas nah sein. Der Unterricht bei ihr verging immer viel zu schnell. Völlig in Gedanken versunken nahm ich eine Bewegung wahr. Mein Herz setzte für einen Moment aus, dann fing es heftig an zu klopfen. Sie kam aus dem Gebäude heraus, aber hatte mich nicht bemerkt. Mara sah etwas gestresst und müde aus.

Ich wollte auf sie zugehen, aber dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich. Woran lag es? Sie schaute geschockt in die entgegengesetzte Richtung und ich folgte ihrem Blick. Ich konnte nichts sehen, da die Jugendlichen noch immer vor meiner Nase standen. Dann sah ich sie nicht mehr. Ich musste ihr schnell folgen, sonst war sie weg. Musste sie abpassen, bevor sie nach Hause fuhr. Ich ging an den Jugendlichen vorbei und da stand sie. Nur einige Meter entfernt. Ich traute meinen Augen kaum. Sie küsste einen Mann. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Was hatte ich auch gedacht? Dass sie mich wirklich mochte? Dass ich ernsthaft eine Chance bei ihr hatte? Ich wollte schreien und weinen, aber musste mich zusammenreißen. Ich war nah genug bei ihr und könnte hören, was sie sagte. »Ich wusste nicht, dass du heute herkommst. Ich dachte, du musst noch arbeiten.« Sie klang nicht begeistert, aber als der Mann antwortete, erkannte ich seine Stimme wieder: »Ich wollte dich überraschen, Mara.« Er umarmte sie und dann fiel sein Blick plötzlich auf mich. Erst sah er mich irritiert an, dann löste er sich aus der Umarmung. »Hey Ella, dass wir uns so schnell wiedersehen, hätte ich ja nicht gedacht.« Er lachte und Mara drehte sich um. Unsere Blicke trafen sich und ich musste schlucken. Irritiert fragte sie: »Ihr kennt euch?« Nun sah er sie verdutzt an. »Ja, wir haben uns im Zug kennengelernt.« Sie kamen auf mich zu und Mara wurde immer blasser. »Ella, das ist Mara«, stellte Max mir seine Freundin vor und für mich brach erneut eine Welt zusammen. Er hatte die ganze Zugfahrt über von Mara gesprochen. Von der Frau, die auch mein Herz schneller schlagen ließ. »Ich weiß«, wisperte ich und meine Stimme klang brüchig. »Ich weiß.«

Remember me || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt