Mit dem schweren Mercedes bin ich unterwegs zu Sally. Sie wird Augen machen.
Meine Sally kenne ich seit unserer Zeit im Kindergarten. Bei den strengen Erzieherinnen genossen wir den Ruf der Unzähmbarkeit. Natürlich durften Sally und ich nie am jährlichen Krippenspiel zu Weihnachten, sozusagen dem Höhepunkt des Jahres, teilnehmen. Durften nicht einmal den Ochsen oder Esel spielen. Die Tanten hatten die berechtigte Sorge, dass es durch uns vor all den gerührten Eltern zu einem Eklat kommen könnte. Dass wir uns, solange das Krippenspiel dauerte, selbst beschäftigen sollten, machte Sally und mir überhaupt nichts aus, denn wir widmeten uns in dieser Zeit dem Glühwein, der für die anschließende besinnliche Feier gedacht war. Mit einem fürchterlichen Rausch wurden wir zum Entsetzen der anwesenden Eltern, die ein Riesendonnerwetter auf die unachtsamen Erzieherinnen niederließen, auf die Intensivstation verfrachtet, wo Sally und ich das Weihnachtsfest in inniger Zweisamkeit verbrachten.
Nach diesem skandalösen Vorfall, der in der Presse groß aufgegriffen wurde, hatten unsere Tanten ein noch wacheres Auge auf uns und verboten uns sogar, Bomben aus Papier zu basteln, was wir gerne taten.
Auch waren die alten Schrullen empört, wenn Sally ihre Strichmännchen, um die Tanten aufzuziehen, immer „Stricher" nannte.
Als Sally und ich schließlich eingeschult wurden, atmeten die Erzieherinnen auf und nahmen zum Dank, wie wir später erfahren haben, an einer Pontifikalmesse teil.Den Paukern in der Schule erging es nicht besser. Da ich neben Sally saß und sie die Klügere war, konnte ich gut von ihr abschreiben. Manchmal ließ sie mir auch kleine Zettel mit den Lösungen zukommen.
Gemeinsam regelten wir als Schülerlotsen, wozu wir uns freiwillig gemeldet hatten, den Verkehr - allerdings nach unseren eigenen Regeln -, bis es eines Tages zu einem größerem Blechschaden, an dem neun Autos beteiligt waren, kam.
Bei den Bundesjugendspielen holten Sally und ich stets den ersten Platz, was unsere Mitschüler allmählich verzweifeln ließ.
Unsere Scherze unter Einsatz von Stinkbomben und Juckpulver sind bis heute legendär und täglich qualmten wir den Paukern die Bude voll.
Natürlich hagelte es Verweise am laufenden Band und jedes Schuljahr waren wir nahe dran, von der Schule zu fliegen.Sally ist bei ihrer Mutter, einer notorischen Säuferin, aufgewachsen. Die zeigte kein Interesse, ihre Tochter zu fördern, hatte nur den Schnaps in der Birne. Hat Sally trotz ihrer Begabung in der Hauptschule versauern lassen.
Sally musste sich von klein auf allein durchschlagen, besonders dann, wenn ihre Mutter wieder einmal tagelang besoffen im Bett lag.
Sallys Vater arbeitete in einer Giftmülldeponie und schlich sich davon, als Sally noch im Bauch der Mutter war. Ging zur Fremdenlegion nach Südfrankreich. Legio - patria nostra: Die Legion war von nun an die Heimat des Rabenvaters. Dort vergaß er mit der Zeit seine kleine Familie. Sally hat jedenfalls die Gene ihres Papas geerbt, ist zu einer guten Kämpferin geworden.
Als Sally die Schule verließ, verdiente sie ein wenig Kohle hier, ein paar Kröten dort, jobbte als Dessous-Model und Aushilfe im Supermarkt.
Sally ist ein besonderer Mensch für mich, eine Heilige, die ich verehre. Auf die ich geprägt und nach deren Gegenwart ich süchtig bin. Sally ist der einzige Mensch, der mich nimmt, wie ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen. Sie schnitzt nicht dauernd an mir herum, will keinen anderen Menschen aus mir machen.
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Der Entflohene
Mystery / ThrillerDie Geschichte eines Entflohenen. Er wird gejagt. Doch die Häscher kommen immer näher. Gibt es ein Entrinnen?