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Für Kommissar Treibel blieb keine Zeit, sich umzuziehen, denn über Funk wurden die beiden Ermittler informiert, dass ein Kollege, der sich gerade an einer Unfallstelle auf der Autobahn aufhalte, das gesuchte Pärchen erkannt habe. Es sei in einem Omnibus unterwegs gewesen, der aufgrund überhöhter Geschwindigkeit in einen PKW gekracht sei.
Als der Kommissar das hörte, gab er Vollgas und steuerte die nächste Autobahnauffahrt an. Das Navi hatte eine Entfernung von 173 Kilometern zur besagten Unfallstelle errrechnet.
Der Kommissar entschloss sich, seit Langem wieder einmal das Blaulicht zu benutzen.
Das verfehlte seine Wirkung nicht und hielt dem mit 240 Sachen dahinfliegenden Fahrzeug die linke Spur stets frei.

Bereits vierzig Minuten später hatten die Fahnder das Ziel erreicht. Es war hier zu einer Reihe von Auffahrunfällen gekommen und die Männer der Abschleppwagen hatten alle Hände voll zu tun.
Die anwesenden Kollegen gaben sich Mühe, den vor Schmutz starrenden Anzug des Kommissars zu übersehen.
Der Polizist, der die Fahnder alarmiert hatte, konnte nicht sagen, wo sich die Verdächtigen im Moment aufhielten. Vorhin sei das Pärchen plötzlich verschwunden gewesen. Offenbar hätte es sich in einem unbeobachteten Moment aus dem Staub gemacht.
Paul war, während sein Chef die Businsassen befragte, mit den Gedanken nicht bei der Sache und bestaunte die herrlichen Ballons, die dort am Himmel so lässig und frei über das Chaos auf der Autobahn hinwegflogen.
Jetzt sah Paul eine blonde Frau kokett aus einem der Ballons herunterwinken. Dem Praktikanten gefielen die lustigen Menschen dort oben und vergnügt winkte er zurück.
Heute war Paul eh bester Laune, denn seine Traumfrau Lola hatte sich gestern Abend bei ihm gemeldet und ein romantisches Abendessen, ein Candle-Light-Dinner, wie sie es nannte, in Aussicht gestellt.
Treibel hatte das merkwürdige Verhalten seines Praktikanten bemerkt und tadelte ihn, er solle sich auf die Erde konzentrieren, denn hier spiele die Musik. Paul könne im Dienst nicht den Hans-guck-in-die-Luft spielen.
Auf Pauls Nachfrage erklärte der Zeuge, den Treibel gerade befragte, ein älterer Herr mit schwarzer Fliege, dass es sich bei diesem Hans um eine Figur aus dem Büchlein „Der Struwwelpeter" handle, und der Rentner konnte sogar - sehr zur Freude der anwesenden Kaninchenzüchter - aus dem Lieblingsbuch seiner Kindheit rezitieren: „Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing. Nach den Dächern, Wolken, Schwalben schaut er aufwärts allenthalben... " Diese Unaufmerksamkeit sei auch der Grund gewesen, erläuterte der Rentner, dass dieser Hans schließlich in einen Fluss gefallen sei.
Und Paul werde es irgendwann genauso gehen, wenn er ständig in den Himmel starre, ergänzte der Kommissar, und der Praktikant hörte ihn zum ersten Mal laut lachen.
Die anwesenden Personen stimmten höflich in das Gelächter ein.
Treibel führte die Vernehmung des Rentners mit der Fliege fort, der berichtete, im Bus hinter den Gesuchten gesessen und sich längere Zeit mit ihnen unterhalten zu haben. Doch diese zwei angeblichen Verbrecher halte der Rentner für harmlos. Für ihn sei es ausgeschlossen, dass die beiden was ausgefressen hätten.
Treibel wunderte sich. Schon wieder jemand, der große Stücke auf das Pärchen hielt.

Als die Befragung der Zeugen zu Ende war, dämmerte dem Kommissar, was dieses Verbrecherpaar im Schilde führte. Es wollte an die Küste, um sich dort per Schiff davonzumachen.
Treibel entschloss sich, die Gegend auf der anderen Seite der Autobahn mit dem Wagen abzuklappern.
Zudem forderte der Kommissar einen Helikopter an, der die Landschaft gründlich aus der Luft absuchen sollte.

Vom Fahrzeug aus hielten die beiden Ermittler eifrig Ausschau nach den Flüchtigen.
Treibel gab Paul zu verstehen, dass sich die bisher vernommenen Zeugen erstaunlich positiv über das Pärchen geäußert hätten. In Treibels langjähriger Polizeikarriere seien ihm immer wieder Gesetzesbrecher über den Weg gelaufen, vor denen der Kommissar eine höhere Achtung gehabt habe als vor manchen Kollegen. Der Gedanke der Toleranz, der Treibel wichtig sei, beinhalte, einen Täter nicht vorzuverurteilen. Das hätten übrigens schon Lessing und Voltaire so gesehen.
Das, was das Superhirn da erzählte, gefiel Paul gut, doch musste er jetzt dringend aufs Klo, weil die Blase schon seit zehn Minuten fürchterlich drückte.
Treibel hielt an, woraufhin der Praktikant die Tür aufriss und zum nächsten Baum stürmte.
Während es laut plätscherte, musste Paul an seine Lola denken.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now