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Wir rennen in die stockfinstere Nacht. Durch unbekanntes Gelände, ohne zu wissen, wohin wir unterwegs sind. Doch Hauptsache, wir sind erst mal weg von der bleihaltigen Luft in der Scheune.
Wir müssen vorsichtig sein, denn ein Hubschrauber kreist unaufhörlich am Himmel, um uns mit dem Suchscheinwerfer zu stellen. Ich denke, dass der Helikopter mit einer Wärmebildkamera ausgestattet ist, was uns zwingt, immer wieder hinter Felsen Schutz zu suchen. Zum Glück ist das Sauwetter mit dem Regen auf unserer Seite, denn es wird die Funktion der Kamera behindern.
Unglaublich, dort vorne lodert ein Feuer, und das bei diesem Regen.
Wir schleichen uns hin und betrachten aus dem dichten Gebüsch die gespenstische Szene, die sich vor uns im Schutze eines gewaltigen Felsüberhangs abspielt. Wir sehen splitternackte Frauen, die in einem auf dem Boden gezogenen Doppelkreis umhertanzen. In der Mitte des Kreises - direkt vor der Feuerstelle - steht mit erhobenen Armen eine Frau in blauer Robe, auf die seltsame Symbole gestickt sind.
„Ein Hexenzirkel", flüstert Sally mir zu, „in der Mitte die Hohepriesterin." Sally kennt sich aus mit solchen Dingen.
Da der Helikopter auf uns zuzuhalten scheint, verlassen wir flink, aber leise das Dickicht, tapsen um den hohen Felsen und verkriechen uns dort.

Bis jetzt hatte Kommissar Treibel vom Hubschrauber aus nichts Ungewöhnliches entdeckt.
Plötzlich erfasste die Wärmebildkamera etwas Auffälliges, das sich hell und ungleichmäßig auf dem Monitor abzeichnete.
In der Tat, die Männer konnten es sogar mit bloßem Auge sehen. Dort vorn schien tatsächlich ein Feuer zu flackern.
Treibel war sich sicher, dass es nicht von den Tätern stammen konnte. Denn die würden so etwas Leichtsinniges nicht tun.
Der Hubschrauber steuerte auf die Feuerstelle zu und hielt den Scheinwerfer darauf.
In der flimmernden Luft erkannten die Männer nackte Frauen. Eine von ihnen hatte eine blaue Robe übergeworfen.
Geblendet und verdutzt blickten die Nackedeis nach oben.
Treibel musterte mit schnellem Blick die Körper, um auszuschließen, dass sich ein Mann in die Runde eingeschlichen hatte. Doch der Kommissar stellte fest, dass die anatomischen Verhältnisse eindeutig waren.
Der Pilot fragte scherzend, ob er nicht ein bisschen mit dem Heli über diesem Schauspiel schweben könne. Der Pilot verpüre große Lust, dort unten ein wenig mitzumischen.
Treibel war anstößige Bemerkungen aus seinem Berufsalltag gewohnt, doch fand er Kommentare dieser Art albern.
Daher erklärte der Kommissar nüchtern, dass so ein okkultes Ritual mit sexualmagischer Komponente, wie man sehe, nicht vom eigentlichen Auftrag ablenken dürfe.
Der Pilot, der nicht viel von dem kapierte, was der Kommissar da schwafelte, ihn aber von jetzt an für einen Klugscheißer hielt, drehte ab.
Die Suche nach dem Verbrecherpaar wurde fortgesetzt.

Treibel dachte daran, dass seine Tochter in etwa das gleiche Alter hatte wie die Frauen dort unten.
Erst vor zwei Wochen war wieder ein Brief ungeöffnet aus den Staaten zurückgekehrt.
Treibel erinnerte sich gern und gut daran, wie er die Tochter als Baby mit einem sperrigen Kinderwagen auszufahren pflegte, und so mancher Passant einen Blick auf das süße Kind mit den großen Augen und der niedlichen Stupsnase werfen wollte. Später tapste die Kleine herrlich unbeholfen umher, als sie an der Hand ihres Papas das Laufen lernte. Jeden Abend vor dem Schlafengehen las Treibel seiner Prinzessin eines ihrer Lieblingsmärchen vor, bis die Tochter mit dem Daumen im Mund selig eingeschlummert war. In mancher Nacht hielt sie es allein in ihrem Bettchen nicht aus und machte sich dann mit dem Teddy im Arm auf ins Schlafzimmer der Eltern, wo sie in die Mitte des Ehebetts krabbelte und es Treibel nichts ausmachte, wenn die Kleine beim Schlafen die Füßchen gegen seinen Rücken stemmte.
Doch seit der Scheidung schien Treibel seine liebe Tochter für immer verloren zu haben, was ihn trauriger stimmte als alles andere auf der Welt.

Trotz intensiver Suche war das flüchtige Ganovenpaar nicht auffindbar, sodass der Kommissar nach zweieinhalb Stunden den Hubschraubereinsatz abbrach.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now