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Eine Kriminalpsychologin vom LKA hatte ein Profil der beiden Gesuchten erstellt und trug die Ergebnisse zu Dienstbeginn in Treibels Büro vor.
Für Paul war der Vortrag eine lehrreiche Unterrichtsstunde.
Treibel hingegen sah ihn als reine Zeitverschwendung, denn zu den Erkenntnissen, die die Profilerin mühsam gewonnen hatte, war der Kommissar längst selbst gelangt. Um jedoch nicht neunmalklug und überheblich zu erscheinen, täuschte er ein gewisses Interesse an den Aussagen der Kriminalpsychologin vor.
Sie betonte, dass der Mörder - vor allem in Ausnahmesituationen - ein erschreckendes Gewaltpotenzial besitze. Die gesuchte Komplizin hingegen schätzte sie als intelligent und fokussiert ein und meinte, dass man das Wesen dieser Frau auf einen einfachen Nenner bringen könne: Sie sei eine kleine Löwin mit einem großen Herz.
Diese in Treibels Augen typisch weibliche Aussage gefiel Paul und machte die Freundin des Mörders auf irgendeine Weise sympathisch.
Die Kriminalpsychologin war weiterhin der Ansicht, dass sich das Verbrecherpaar gezielt auf einen Ort zubewege, an dem es mit einer neuen Identität untertauchen wolle.
Dem Praktikanten vermittelten die Aussagen der Kriminalpsychologin eine ganz neue Sicht der Dinge. Er fand die Erkenntnisse beeindruckend, wie übrigens auch die Dame selbst.
Nach dem Vortrag bedankte sich Treibel bei seiner Kollegin und beschloss, noch einmal den riesigen Wald, in den das Pärchen geflohen war, mit seinen eingebetteten Weilern und Dörfern durchforsten zu lassen.

Der Kommissar und Treibel gingen ins Nebenzimmer, um sich, bevor sie sich auf den Weg machten, zu stärken.
Treibel nahm seine Schnitte mit dem fettarmen Käse aus dem Brotbeutel. Diese Kost hatte sich der Kommissar wegen seiner erhöhten Blutfette selbst verordnet. Ihn störte auch das dick beschmierte Mettwurstbrötchen nicht, das Paul sich gierig in den Rachen stopfte.
Allerdings beanstandete Treibel das Shirt, das sein Praktikant heute unter der Anzugjacke trug. Selbst der kühlen Profilerin habe es vorhin bei Anblick des Hemdes fast den Atem verschlagen. Ein Shirt mit dem Bild eines Kaspers darauf sei einem angehenden Kommissar in höchstem Maße unwürdig. 

Die alte Bäuerin findet, dass sie unsere Hilfe gut brauchen könne, denn das Holz für den Winter müsse noch gehackt und der Roggen geerntet werden, und das schaffe sie mit ihren dünnen Armen kaum noch. Auch die Beeren, die sie jedes Jahr einwecke, hingen an den Sträuchern und müssten gepflückt werden.
Wir sind froh. So wie es aussieht, haben wir einen neuen Job.

Gleich nach dem Frühstück mache ich mich fieberhaft an die Arbeit, schlage im Wald mit einer Spaltaxt einige Bäume, aus denen ich buchstäblich Kleinholz mache. Die Scheite staple ich ordentlich neben das Bauernhaus. Die Arbeit geht flott voran und der Holzhaufen wird von Stunde zu Stunde höher.
Auch Sally ist fleißig, füttert Hühner und Schweine und mistet mit viel Liebe den Stall aus.
Gelegentlich kommt Sally bei mir vorbei und sieht mir beim Holzhacken zu. Ich weiß, sie liebt meinen Körper.
Sie scherzt, dass es paradox sei, dass ein Bulle wie ich von Bullen gejagt werde.

Am späten Mittag ruft uns die Bäuerin zu Tisch.
Sie hat Pfannkuchen gebacken.
Während des Essens erzählt sie, dass ihr Mann nun schon seit achtzehn Jahren tot sei. Kinder hätten sie keine. Die letzten Jahre seines Lebens sei er verkalkt gewesen und in einer frostigen Winternacht sogar von daheim ausgerissen. Eine Frau aus dem benachbarten Dorf habe ihn einen Tag später halb erfroren im Wald entdeckt. Von da an sei die Bäuerin gezwungen gewesen, ihren verwirrten Mann nachts in der Kammer, wo wir zurzeit schliefen, einzusperren.
Der Tod sei eines Nachts gekommen, um den Kranken zu erlösen. Seltsam sei es gewesen, dass zum Zeitpunkt des Todes das Hochzeitsbild, das 45 Jahre unverändert an der Wand gehangen habe, zu Boden gefallen und das Glas des Rahmens zersprungen sei.
Auch die folgenden Monate habe die Bäuerin ihren Mann noch öfter auf dem Hof gesehen, etwa ein Jahr lang, dann sei mit einem Mal Schluss damit gewesen.
Gebannt lauschen wir den unheimlichen Begebenheiten.

Nach dem Essen machen wir uns wieder an die Arbeit. Ich hacke noch drei Stunden Holz und habe am Ende so viel davon gestapelt, dass es der alten Frau für die nächsten zehn Winter reichen müsste.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now