34

489 3 0
                                    


Als wir Stunden später durch den dumpfen Klang der Standuhr aufwachen, stellen wir fest, dass wir fast den ganzen Tag verschlafen haben.
Noch müde rappeln wir uns hoch, ziehen uns an und gehen hinaus in die Stube.
Dort ist die alte Bäuerin damit beschäftigt, das Abendbrot zuzubereiten.
Mit verstohlenem Grinsen fragt sie, ob wir schon ausgeschlafen hätten.
Sie hat Eintopf gekocht, mit viel Bohnen und etwas Fleisch.

Beim Essen erzählt sie von der wechselhaften Geschichte des Hofs.
Wie die Scheune im August 1920 durch einen Blitzschlag abgebrannt sei.
Im Zweiten Weltkrieg seien Erntehelfer, Kriegsgefangene aus Polen, hier auf den Hof gekommen. Ein hübscher Mann mit Namen Stanislaw habe ein Auge auf sie gehabt. Auch sie habe Gefühle ihm gegenüber gehegt, sei damals aber schon verlobt gewesen und ihrem künftigen Mann, der damals in Russland in einer Panzereinheit gedient habe, treu geblieben.
Während eines einwöchigen Heimaturlaubs des Verlobten sei es dann so weit gewesen. Die Bäuerin, gerade achtzehn geworden, habe ihn klammheimlich geheiratet.
Sie füllt unsere Teller ein zweites Mal und erzählt weiter.
Als ihr Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt sei, habe es sich um einen ganz anderen gehandelt. Er sei nicht mehr der liebenswürdige Mann gewesen, den sie vier Jahre zuvor geheiratet habe, sondern nur noch ein schweigsamer Sonderling. Doch habe er nie darüber sprechen wollen, was ihn so verändert habe. Das Pfeifen der russischen Raketen sei jedoch für immer in seinen Ohren geblieben, habe ihn so manche Nacht fast wahnsinnig gemacht. Gemeinsam hätten sie auf dem Hof ein karges Leben geführt.
Nach dem Abendessen helfen wir der Bäuerin beim Füttern des Viehs und der Hausarbeit.
Schon bald hauen wir uns in die Federn.

In der Nacht habe ich wieder den schrecklichen Traum. Diesmal kann ich sogar die schmerzverzerrte Stimme meines Bruders hören, der mich aus dem zerstörten Wagen um Hilfe anfleht. Doch ich bin machtlos, kann nichts für ihn tun.
Was mir in letzter Zeit Kopfzerbrechen bereitet, ist der Umstand, dass dieser Albtraum von Mal zu Mal deutlicher wird, bis er mir bestimmt eines Tages die Nerven zerfetzen wird.
Unseren Vater haben mein Bruder und ich nie kennengelernt. Als die Mutter jung starb, war ich fünf, mein Bruder drei. Ich habe unsere Mama noch gut in Erinnerung. Sie war blond wie ich, hatte schönes, lockiges Engelshaar.
Manchmal fragte ich Mama, warum wir keinen Papa hätten wie all die anderen Jungs.
Dann antwortete sie ausweichend, dass wir keine Angst zu haben bräuchten. Mama werde über ihre Kindchen wachen wie eine gute Fee.
Nachdem Mutter tot war und Tanten und Onkel nicht zu unserer Aufzucht - wie sie es nannten - bereit waren, wurden wir als Waisen ins Heim gesteckt. Dort lernten wir alle Missetaten aus dem Effeff, besonders wie man geschickt stahl und erbarmungslos prügelte. Nur mit Gewalt konnte man sich in der Gruppe durchsetzen.
Das Essen im Waisenhaus war die reinste Katastrophe. Ungenießbar und regellos, die Portionen klein. Doch nie ließ sich im Lauf der Jahre eine Kontrolle blicken.
Der Leiter des Waisenhauses war ein übler Geselle mit Namen Schmidt, der oft nach Schnaps roch und dann unbeherrscht auf uns Kinder eindrosch.
Mit einem höhnischen Grinsen, das mir für immer in Erinnerung bleibt, liebte es Schmidt, uns mit tagelangem Stubenarrest - und das meist mitten in den Ferien - zu bestrafen. Schmidt war nichts anderes als ein gemeiner Sadist.
Besonders hatte es der Heimleiter auf meinen Bruder abgesehen. Einmal schlug Schmidt ihn so heftig, dass Max von blauen Flecken übersät war. Doch der Heimleiter zwang meinen Bruder unter Drohungen, die Blutergüsse vor dem Lehrer mit einem Fahrradunfall zu erklären.
Und jedes Mal beim Baden betatschte Schmidt mein Brüderchen an Stellen, die ich hier gar nicht nennen will.
Max war der schwächere von uns beiden, ein empfindsamer Junge, der es in einem solchen Heim schwer hatte. Doch weckte das umso mehr meinen Instinkt, ihn vor allem Unheil zu schützen.
Als Schmidt eines Tages mit einer Nachttischlampe auf Max einprügelte, schnappte ich mir das Fleischmesser aus der Küche und stieß es mit Wucht in Schmidts Bauch. Der Heimleiter überlebte meine Attacke, weil er so fett war. Ich habe diese Tat nie bereut.
Nach diesem Vorfall wurden Max und ich auseinandergerissen. Ich kam in ein Heim für Schwererziehbare, wo der Alltag noch gnadenloser war, wo nicht nur Fäuste flogen, sondern auch Messer.
Doch mein Bruder und ich nahmen die getrennten Wege nicht so einfach hin. Wir trafen uns regelmäßig, waren nun nicht nur Brüder, sondern dicke Freunde.
Bis zu dem Scheiß-Unfall, der mein Leben von einem Augenblick auf den andern zerstört hat. Ich war danach völlig durch den Wind und wünschte mir den Tod. Am Steinbruch raste ich immer wieder mit dem Ford auf den Abgrund zu, um den Wagen Zentimeter zuvor doch noch zum Stehen zu bringen.
Sally war es, die mich von dieser Todessehnsucht erlöst hat. Diese Frau hat mich gerettet, ihr verdanke ich alles.
Und doch werden mich die Dämonen der Kindheit nie in Ruhe lassen.

Am Morgen darauf bieten wir beim Frühstück mit Rhabarbermarmelade und frisch gemolkener Ziegenmilch der Bäuerin unsere Dienste an.
Willigt sie ein, könnten wir eine Zeit lang auf dem Hof bleiben, bis die Suche nach uns abebbt.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now