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Wir nähern uns unaufhörlich, Kilometer für Kilometer, der Großstadt.
Ihre Anonymität wird uns Schutz bieten. An Hektik und Lärm werden wir uns schnell gewöhnen, auch an die Massen von Menschen, die abwesend und mit leeren Augen aneinander vorbeihasten.
Jacques auf dem Beifahrersitz gefällt sich in der Rolle des Lotsen und spielt souverän seine hervorragenden Ortskenntnisse aus.
Sally, die hinten verträumt aus dem Seitenfenster blickt, schwirrt die italienische Landschaft, die Jacques so herrlich beschreibt, im Kopf herum.
Sally sehnt sich dorthin und schlägt plötzlich vor, sofort nach Italien aufzubrechen.
Jacques zeigt sich begeistert von dieser Idee und verspricht, uns in Bella Italia ein sauberes Zimmer mit herrlichem Blick aufs Meer zu besorgen. Bei Bekannten, wo wir für längere Zeit, vielleicht für immer wohnen könnten.
Ich überlege kurz und rate davon ab. Diesen Plan halte ich im Moment für zu gewagt. Sicherer ist es, erst mal eine Zeit lang unterzutauchen, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Dann könnten wir uns immer noch ins Ausland absetzen.

Wir haben die ersten Ausläufer der Stadt erreicht und biegen rechts ab auf einen Großparkplatz, von wo die Besucher direkt auf die Bahn umsteigen.
Ich halte Ausschau nach einem Ersatzwagen, irgendein altes Modell, das sich leicht knacken lässt. Ein Wagen ohne Alarm, Wegfahrsperre und den ganzen Schnickschack.
Ein betagter Japaner erweckt meine Aufmerksamkeit.
Ich parke den Mercedes.
Wie man ein Auto klaut, habe ich im Heim gelernt, wo ich meine Jugend verbrachte. Dort habe ich mir's  von den andern Jungs abgeschaut.

Wir steigen aus und bedanken uns bei Jacques, wünschen ihm alles Gute und hoffen, ihn eines Tages wiederzusehen. Ich krame Kohle hervor, einen größeren Betrag, und drücke sie unserem Freund in die Hand.
Er freut sich und meint, er wolle zu Fuß zurück, sich das Busgeld sparen. Salut!
Mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen macht sich Jacques auf den Weg.
Wir schauen ihm, der sich immer wieder umdreht und uns zuwinkt, lange hinterher.

Ich hatte der Frau aus dem Bungalow versprochen, den Mercedes nur zu leihen, und wie immer halte ich mein Wort. Ich werde ihr auch das Werkzeug zurückgeben. Gleich nach dem Job, den ich nun zu erledigen habe.
Sally streicht der Limousine wie einem alten Freund über die Motorhaube. Der Mercedes hat's verdient, hat uns treue Dienste erwiesen.

Die Wagentür des Japaners lässt sich erstaunlich leicht öffnen.
Drinnen bin ich schon mal. Jetzt noch die Lenksäule aufschlagen und das Auto kurzschließen. Ein Kinderspiel bei diesem alten Modell.
Sally nimmt auf dem Beifahrersitz Platz.
Ich muss gestehen, dass es mir keinen Spaß macht, fremde Karren zu klauen. Ich weiß, manche Menschen haben ein besonderes, oft inniges Verhältnis zu ihrem Wagen.
Doch auch dieses Auto werde ich mir nur leihen. Versprochen!

Mit unserem neuen Gefährt tasten wir uns durch den Dschungel der Großstadt, befinden uns bald in einem schwerfällig dahintreibenden Strom von Fahrzeugen aller Art.
Der Besitzer dieses Wagens scheint jedenfalls Kettenraucher zu sein, denn der Aschenbecher quillt über vor Stummeln. Außerdem stinkt es hier drinnen wie in einer Räucherkammer.
Ich bitte Sally, im Handschuhfach nachzusehen, wem diese Kiste gehöre.
Auf einer Gerichtsladung steht ein Name. Irgendwie paradox, dass der Kerl wegen Autodiebstahls angeklagt ist.
Es herrscht ein mordsmäßiger Verkehr auf den labyrinthartigen Straßen.
Ich zucke zusammen, als ich einen Bullen sehe, der dort vorne wie wild mit den Armen herumfuchtelt. Ich hoffe, dass es dieser Fuzzi nicht auf uns abgesehen hat.
Doch Sally entdeckt den Unfall, der da an der Kreuzung passiert ist, und gibt Entwarnung. Der Bulle regelt mit seinen komischen Verrenkungen nur den Verkehr.
Ich denke, dass uns diese Stadt gut schützen wird. Hier gibt es ideale Verstecke. Still gelegte Schächte, Bunker, dazu das weitverzweigte Kanalnetz, das wir uns notfalls mit den Ratten teilen.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now