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Im Abendrot erreichen wir die Wanderhütte. Sie ist prächtig geschmückt mit filigranen Schnitzereien.
Wir treten ein und treffen auf eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Wandersleuten, die in fröhlicher Rund an einem Holztisch sitzt und uns begrüßt.
Zwei gleich aussehende Frauen mit blonden Zöpfen - ein Zwillingspärchen, wie wir später erfahren - heißen uns willkommen und erklären, dass diese Hütte im bayrischen Stil betrieben werde und sie Resi und Zensi hießen.
Die markanten Sattelnasen verleihen den Wirtinnen ein lustiges Gesicht.
Wir setzen uns mit an den Tisch, wo Schüsseln mit Kaiserschmarrn und Schweinshaxe stehen. Eine der Frauen bringt uns zwei Teller und fordert uns auf, tüchtig zuzugreifen.
Die bayrische Schunkelmusik im Hintergrund - die Schwestern bezeichnen sie als Hüttenkracher - ist gewöhnungsbedürftig.
Uns schräg gegenüber sitzt ein blasser Typ, der uns erzählt, dass er drei Jahre an der Entwicklung einer neuen Software gearbeitet habe, die am Ende niemand haben wollte. Drei Jahre Schattendasein, weil dem Kerl durch die Computerarbeit keine Zeit mehr für andere Dinge geblieben sei. Selbst noch im Schlaf habe er manchmal versucht, die Hand seiner Freundin doppelzuklicken. Jetzt arbeite er in einem Chemiekonzern und leite die Produktion von Schwefelsäure. Wer könne sich heutzutage seine Arbeit noch aussuchen? Ein alter Schulkollege, der acht Jahre lang Polarforschung studiert habe, verdiene sein Geld nun als Eisverkäufer.
Uns gegenüber sitzt ein Wanderpärchen mit Namen Fridolin und Ilsebill. Fridolin, der mit seinem Vollmondgesicht und der runden Brille etwas skurril aussieht, meint, dass er seinen Beruf geliebt habe. 35 Jahre habe Fridolin im Knast als Gefängniswärter gearbeitet. Ganoven könne er bis auf hundert Meter gegen den Wind riechen, denn die Arbeit in der JVA habe ihn zu einem Menschenkenner gemacht. 

Nach dem urigen Essen fließen einige Liter süffigen Biers.
Fridolin liefert - mittlerweile sternhagelvoll - mit schwerer Zunge eine erbärmliche One-Man-Show ab. Immer wieder starrt die rheinische Frohnatur meiner Sally in den Ausschnitt. Das stört uns nicht, glotzen darf er ruhig. Sally hat ja was zu bieten.
Das Niveau des Saufgelages rutscht auf den absoluten Tiefpunkt, als die Zwillingsschwestern unter den Klängen des Holzhacker-Marsches versuchen, einen Schuhplattler aufs Parkett zu legen.
Fridolin heizt die Ladys lallend an und grölt, dass sie wirklich Pfeffer im Hintern hätten.

Glücklicherweise endet der feuchtfröhliche Abend, bevor die Wirtinnen ihren letzten Stampfer machen, weil Fridolin auf einmal laut rülpst und mit starrem Blick vom Stuhl kippt.
Die versammelte Mannschaft schleift den nicht mehr ansprechbaren Schluckspecht zum Ausnüchtern in den Schlafsaal.
Dort bleibt die Truppe gleich, weil es schon spät ist und man morgen zur nächsten Wanderetappe fit sein will. Auf den Isomatten, die ungeordnet auf dem Boden liegen, müssen siebzehn Personen eng zusammengepfercht die Nacht verbringen. Siebzehn Schlafwillige, die nach heißem Tagesmarsch ihre Wanderstiefel ausziehen, was trotz geöffneter Fenster zu einem speziellen Duft führt.

Am nächsten Morgen nach kurzer Nacht weckt Fridolin die Wanderfreunde mit wütendem Geschrei. Jemand habe ihm über Nacht die Geldbörse samt Scheckkarte geklaut.
Alle Personen im Schlafsaal sind bestürzt, doch versichern, mit dem Diebstahl nichts zu tun zu haben.
Fridolin äußert, dass er einen dringenden Verdacht habe und den Chemiker für den Dieb halte, weil der sich als Einziger schon beizeiten aus dem Staub gemacht habe.

Nach und nach kommen die Wandersleute noch ziemlich verschlafen in die Gaststube, wo die Wirtinnen gerade das Frühstück auftragen.
Auch Fridolins Geldbeutel findet sich wieder. Er lag neben der Kloschüssel und ist dem Clown offensichtlich nachts beim Pinkeln aus der Tasche gerutscht.

Nach dem Frühstück verabschieden sich die Gäste und brechen frohgelaunt in verschiedene Richtungen auf.
Wir sind die Letzten, die losziehen, und erfahren im Gespräch mit den Zwillingsschwestern, dass sich in der nahe gelegenen Kleinstadt ein Fahrradverleih befindet.
Das ist super, denn mit Fahrrädern werden wir - selbst bei langsamem Tempo - gut die dreifache Strecke wie gestern schaffen.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now