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Wir sind angekommen.
Der „Höllenschlund" entpuppt sich als urige Dorfschenke, die noch um diese Zeit - es ist schon weit nach Mitternacht - hell erleuchtet ist.
Den Mercedes parken wir abseits im Dunkeln, dort fällt er nicht auf.

Als Sally und ich das Wirtshaus betreten, zeigt es sich gut gefüllt, wie übrigens auch die Gäste. An der Wand gegenüber macht ein jüngerer Mann einen kläglichen Eindruck und klammert sich, um beim Torkeln nicht umzukippen, an einen Spielautomaten.
Das laute Gebrüll von Kontra und Re lässt nach, als die Einheimischen unsere Anwesenheit bemerken und sich verstohlen nach uns umdrehen. Anscheinend haben die argwöhnischen Bergbauern nur selten Gäste und zu solch später Stunde schon gar nicht.
Es ist uns unangenehm, wie Störenfriede in vertrauter Runde zu wirken. Wir versuchen, auf die Kerle einen unauffälligen und wohlgesinnten Eindruck zu machen.
Als jedoch das Glotzen überhaupt nicht aufhört, stehe ich kurz zuvor, quer durchs Lokal ein „Salam alaikum!" zu brüllen, um den blöd Gaffenden zu bestätigen, dass wir hier Fremde, ja Exoten sind.
Sally spürt, was sich in meinem Hirn zusammenbraut, und flüstert mir zu, ich solle mich jetzt beherrschen.
Der Wirt am Tresen, ein langer Kerl mit warmen Augen, doch abgemagert bis auf die Knochen, kommt mit dem Zapfen kaum nach. Hier in der Schenke wird gesoffen bis zum Gehtnichtmehr.
Wir fragen den Wirt nach einem Zimmer für die Nacht.
Er entgegnet, dass wir Glück hätten, weil ein Doppelzimmer frei sei. Wir sollten es nicht persönlich nehmen, wenn er uns immer derart merkwürdig angucke, denn er habe nur ein Auge, das andere sei aus Glas. Ein randalierender Saufbold, so ein Schwein, habe ihm vor acht Jahren ein Jagdmesser ins Auge gerammt. Aber einen Vorteil habe die Sache, offenbart der Wirt, er sähe die Welt nur noch zur Hälfte. So könne er sie gerade noch ertragen.
Dann kramt er den Zimmerschlüssel aus einer Schublade hervor.
Zweifellos ist der Kerl frei von Berührungsängsten, wenn auch ein wenig depressiv.

Wir folgen dem Wirt die knarrende Holztreppe hoch. Mir ist bange, dass die altersschwachen Stufen mein Gewicht nicht tragen könnten.
Der Wirt, der nur schleppend vorankommt, bedauert, dass er nicht schneller könne. Das liege an der Staublunge. Früher habe er als Bergmann gearbeitet. Jetzt faule sein Körper so vor sich hin. Die Kneipe könne der Wirt keine zwei Jahre mehr führen, da fehle ihm einfach die Kraft. Doch er kenne das schon. Seine Frau sei am Krebs verreckt.
Wir sprechen dem Wirt unser Mitgefühl aus. Eine schlimme Sache. Das ganze Elend der Welt scheint sich hier in der Herberge versammelt zu haben.
Der Wirt gesteht, für seine Gäste unten habe er nicht viel übrig. Erst neulich hätten sie wieder alles bei einer heftigen Prügelei kurz und klein geschlagen. Das koste jedes Mal viel Geld, weil die Versicherung ihm längst gekündigt habe.
Dieser Klagegesang des Wirts wirkt sich auch auf unsere Stimmung aus. Wir sind nun selbst bedrückt.
Vor der Tür zum Gästezimmer wage ich kaum noch, dem Wirt die Frage zu stellen, die mir die ganze Zeit schon auf den Lippen brennt: Wieso dieses Gasthaus eigentlich „Zum Höllenschlund" heiße.
Der Wirt erklärt mit leiser, gedrückter Stimme, dass die Gegend hier Höllenschlund genannt werde, weil früher viele Menschen an diesem Ort verschwunden seien. Das Volk habe geglaubt, der Teufel habe sie von der Erde weg in sein Höllenreich geholt. In Wirklichkeit seien wohl die hungrigen Bären dafür verantwortlich gewesen, die früher oft in diesem Gebiet umhergestreift seien.
Der Wirt sperrt das Fremdenzimmer auf, drückt mir den Schlüssel in die Hand und macht wortlos kehrt, um wieder zur Gaststube hinunterzuwackeln.

Sally stellt mit wenigen Blicken fest, dass das Zimmer nicht gerade im Top-Zustand sei.
Sie streift mit dem Finger über die Fensterbank und hat in der Tat eine zentimeterdicke Staubschicht am Finger.
Doch Sally hat Verständnis. In dieser Lotterwirtschaft fehle eben die Frau.
Die schwarzen Käfer, die in Massen über den Teppich laufen, stören uns nicht.
Ich erinnere Sally daran, wie wir den Kindergarten-Tanten fette Marienkäfer in den Kragen gekippt und uns über das Kreischen der pingeligen Ladys köstlich amüsiert hätten.
Sally schmunzelt.
Sie ist von der langen Fahrt geschafft und haut sich gleich in die Federn. Trotz des hohen Geräuschpegels, der von der Gaststube heraufdringt, pennt Sally sofort ein.
Jetzt fangen die Saufbrüder auch noch an, alte Zechlieder zu schmettern. Ich nehme eine Whiskyflasche aus unserer Reisetasche und flüchte auf den Balkon.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now