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Den Whisky hatte ich zu schnell in mich hineingeschüttet und muss mich nun beim Fahren konzentrieren. Was ich vor meiner Scheibe sehe, ist alles andere als ein deutliches Bild.
Wir befinden uns auf einem Feldweg, den der Wirt als Abkürzung empfohlen hat.
Sally neben mir ist die Ruhe in Person.
Jetzt taucht vor uns die altersschwache Holzbrücke auf, vor die uns der Wirt gewarnt hat. Wir sollten vorsichtig im Schneckentempo drüberfahren.
Sally meint, dass diese Brücke eher für Ochsenkarren, aber nicht für einen Mercedes tauge.
Wir wagen es.
Die ersten Meter geht trotz des bedrohlichen Knisterns im Gebälk alles gut.
Doch plötzlich durchdringt ein ohrenbetäubender Krach die finstere Nacht.
Wir befürchten, nun mit dem Wagen in die Schlucht zu stürzen. Von weit unten dringt das Tosen eines reißenden Gebirgsbachs herauf.
Doch als wir uns Sekunden später immer noch auf der Brücke befinden, merke ich, dass lediglich eines der Hinterräder durchs morsche Holz gebrochen ist. Jetzt stecken wir auf der Brücke fest und der Mercedes bewegt sich - egal, was ich auch tue - keinen Ruck mehr.
Ich rede dem Wagen gut zu. Es geht ja auch um sein Leben. Doch die verdammte Karre zeigt keine Reaktion.
Also heißt es: Aussteigen!
Sally krabbelt vorsichtig auf den Fahrersitz und gibt auf meinen Befehl hin leicht Gas, während ich mit all meiner Kraft versuche, den Wagen hinten anzuheben und gleichzeitig zu schieben.
Die Brücke knarrt immer mehr. Erst beim dritten Manöver findet das Rad wieder festen Halt auf einer Holzplanke.
Schweiß tropft mir von der Stirn, als ich einsteige und Zentimeter für Zentimeter weiterfahre.
Wir haben Glück und erreichen ohne weitere Zwischenfälle die Gegenseite.

Nun sind wir auf einer Asphaltstraße mit auffallend schmaler Spur unterwegs. Die Trasse führt mitten durch einen urwüchsigen Wald.
Nach der Beschreibung des Wirts müssten wir uns auf einer breiten Landstraße befinden. Irgendwas ist schiefgelaufen.

Nach einer halben Stunde Fahrt sind wir immer noch keinem Auto begegnet. Wir haben uns ganz schön verfranst. Genauso wie im Leben: Man fährt drauf los, ohne zu wissen, wohin und wie alles einmal endet.
Durch den Adranalinkick vorhin fühle ich mich nun hellwach. Die benebelnde Wirkung des Whiskys ist nicht mehr zu spüren, und das ist gut so.
Bei der monoton sich hin- und herschlängelnden Spur schießen mir abwegige Gedanken durch den Kopf. Ich musste mich im Leben auch durchschlängeln wie hier. Wollte zwar immer den geraden Weg gehen, doch wem gelingt das schon? Ständig haben mir irgendwelche Trottel Hindernisse in den Weg gelegt, an denen ich vorbei musste.
Ich weiß, dass Sally das Leben ähnlich sieht wie ich. Wie Seelenverwandte es eben tun. Sally hat es mal als einen Boxkampf bezeichnet, in dem man fürchterlich vermöbelt wird und immer wieder zu Boden geht. Doch wer sich nicht mehr aufrappelt, hat die Chancen auf den Sieg verspielt.

Ich habe angehalten, weil ich an einer Kreuzung ohne Schilder inmitten dieses Urwalds stehe. Ich bin ich mir nicht sicher, wohin ich fahren soll, doch ich folge wie ein Tier meinem Instinkt und der sagt mir: nach rechts.

Ich denke, es war die richtige Wahl, denn kurze Zeit später entdecke ich etwas abseits der Straße eine Holzhütte.
Ich bleibe stehen und betrachte mir den Schuppen. So schräg und krumm, wie er dasteht, finde ich ihn auf Anhieb sympathisch.
Ich streichle meiner schlummernden Sally übers Gesicht und flüstere ihr ins Ohr, dass ich was zum Übernachten gefunden hätte: kein Luxushotel, nur eine alte Hütte.
Sally öffnet langsam die Augen und blinzelt verschlafen.

Unsere Karre habe ich hinter dichtes Gebüsch gestellt. Von der Straße aus ist der Wagen nicht zu sehen.
Wir trotten zum Schuppen. Eine Schutzhütte für Wanderer, vermute ich.
Sally und ich hatten früher vor, nach Kanada auszuwandern, um in einem einsamen Blockhaus in den Rockies zu leben. Irgendwo tief im Wald unter Wölfen und Grizzlys. Fernab aller Zivilisation. Doch nach Kanada dürfen nur Typen, die sauber sind. Ich hatte zu viel auf dem Kerbholz. Diese Hütte hier, unser Schlafplatz für eine Nacht, erinnert mich an unser verlorenes Abenteuerleben.
Sally sieht plötzlich in der Ferne Scheinwerfer, die langsam wie die wachen Augen einer Raubkatze auf uns zukommen.
Rasch verziehen wir uns hinter die Hütte.
Wir hören, dass das Auto jetzt sehr nahe ist und... es fährt vorbei.

Die Tür zur Hütte ist nicht verschlossen. Das Stemmeisen, das ich aus dem Bungalow mitgehen ließ, kann im Kofferraum bleiben.
Mit meinem Feuerzeug leuchte ich das Innere des Schuppens aus.  Spinnen fliehen vor meinem schwachen Licht.
Im Raum gibt es eine Holzbank. Für Sally. Ich werde auf dem Boden schlafen.
Ich hole die Decke aus dem Wagen und lege sie auf die Bank. Mit einigen Klamotten aus dem Gepäck baue ich für Sally ein kuschliges Nest und hoffe, dass sie es bequem findet.
In zwei, drei Stunden geht die Sonne auf, dann müssen wir fort von hier.
Ich hole ein paar kräftige Holzstämme, die vor der Hütte auf einen Stapel getürmt sind, und stemme sie von innen gegen die Tür. Sollte jemand hier eindringen, gibt das einen Riesenradau.
Erschöpft schlafen wir gleich ein.

Unbestimmte Zeit später reißt mich ein Geräusch aus den Träumen. Dabei waren die so herrlich: Der Wirt vom „Höllenschlund" war kerngesund, ein dynamischer Typ, der nur so strotzte vor Kraft. Mit unserer Hilfe hatte er seine heruntergekommene Bruchbude in eine Nobelherberge verwandelt, in deren Küche der Junge vom Imbissstand die köstlichsten Menüs für die Gäste zauberte.
Aber leider nur ein Traum. Wie so oft im Leben. Im Moment stecke ich in der hässlichen Wirklichkeit und liege auf dem Boden eines halb verfallenen Schuppens, wo es von Ungeziefer nur so wimmelt.
Ich muss herausfinden, woher das auffällige Geräusch von eben kam.
Schnell springe ich auf und merke,  dass wir ganz schön verpennt haben. Unsere innere Uhr, normalerweise ein zuverlässiger Weckdienst, ist in der Nacht stehen geblieben. Die Strahlen der Sonne durchfluten bereits hell den Raum.
Ich spähe durch eine der vielen Ritzen, die diese Bruchbude löchrig wie einen Schweizer Käse machen, und zucke zusammen.
Das, was ich da sehe, gefällt mir überhaupt nicht: Am Straßenrand steht ein Bullenauto.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now