Als ich zu Sally hinüberblinzle, sehe ich, dass der Verband am Oberarm schon wieder durchgeblutet ist. Es hilft nichts, wir müssen zu einem Arzt.
Dieser Mercedes hat zwar ein Navi, doch kennt es die engen Bergstraßen nicht. Vorhin hab ich den Bullen noch gefragt, in welcher Richtung man am besten von hier wegkomme.
Er hat gezögert und nach links gezeigt. Also fahren wir nach rechts, weil der Typ gelogen hat.
Wir müssen raus aus diesem Wirrwarrwald, wo ein Weg dem andern gleicht.Nach kurzer Strecke glaube ich, durch das Laub der Bäume einen Mann zu erkennen, der offensichtlich mit seiner Angel an einem Teich sitzt.
Ich halte an. Vielleicht kann dieser Kerl uns sagen, wo hier der nächste Doktor ist.Durchs Gebüsch pirsche ich mich heran, bis ich schließlich hinter dem Angler stehe.
Um mich bemerkbar zu machen, räuspere ich mich.
Das wirkt. Der kleine Kerl vor mir zuckt zusammen, springt auf und dreht sich um.
Als er mich sieht, wirft er die Angel mit angstverzerrter Miene zu Boden und sucht mit erhobenen Armen das Weite.
Freundlich rufe ich dem Kerl ein „Petri Heil" hinterher und lasse durchblicken, dass ich nichts Böses von ihm wolle, nur Hilfe brauchte. Außerdem habe er seine Karpfen und die Angel hier vergessen.
Daraufhin verlangsamt der kauzige Typ sein Tempo und bleibt stehen.
Ich erkläre, dass meine Freundin durch einen Unfall verletzt worden sei und dringend einen Arzt brauche. Aber ich würde mich hier in der Gegend nicht auskennen.
Der Kerl schaut mich erstmal eine Zeit lang an und kommt dann vorsichtig näher.
Ich frage, ob er denn die alten Stiefel, die hier im Gras lägen, auch aus dem Teich gefischt habe.
Mit diesen Worten scheine ich den Burschen beleidigt zu haben, denn er entgegnet unwirsch, dass das seine eigenen und einzigen Paar Schuhe seien. Einen verwesten Schweinskopf habe der Kerl neulich an der Angel gehabt, aber noch nie einen Stiefel.
Ich mustere mein Gegenüber und stelle fest, dass er ziemlich verlumpt aussieht. Das übergroße Hemd, an dem einige Knöpfe fehlen, starrt vor Schmutz und wenn dieser Petrijünger beim Sprechen den Mund aufmacht, sieht man, dass er kaum noch Zähne hat.
Als ich den Mann auf seinen französischen Akzent anspreche, bestätigt der Kerl, dass er aus Frankreich stamme, doch schon seit acht Jahren hier lebe. In einem Städtchen ganz in der Nähe. Und da gebe es eine Frau Docteur. Es sei wohl das Beste, wenn er mitkomme und uns den Weg zeige.
Ich gehe auf dieses Angebot ein.Im Wagen stellt sich der Gammler als Jacques vor.
Als er den durchgebluteten Verband an Sallys Arm bemerkt, versucht der Clochard, sie zu trösten, und verspricht, uns den kürzesten Weg in die Stadt zu zeigen.
Ich spüre, dass sich dieser Typ auf Anhieb gut mit Sally versteht. Allerdings habe ich die Befürchtung, dass der Vagabund - abgesehen von den zwei Karpfen - allerlei Biester mit in den Wagen geschleppt hat: Flöhe, Sackratten, vielleicht anderes Ungeziefer.
Auffällig an diesem Jacques ist, dass er ein pausenloses Dauergrinsen aufgesetzt hat, was ich jedoch bei ihm als gar nicht unangenehm empfinde.
Durch die Karpfen hat sich im Wagen ein fürchterlicher Gestank breitgemacht.
Auch Sally scheint der Mief zu stören, denn sie lässt das Seitenfenster runter.
Jacques gesteht, dass er vorhin so schnell abgehauen sei, weil er keinen Angelschein habe und nicht schon wieder Ärger mit der Polizei wolle.
Allmählich taut der Kerl auf, wird gesprächig und erweist sich im Verlauf der Fahrt als regelrechte Plaudertasche.
Jacques erzählt, dass er sich als junger Mann über die Alpen Richtung Piemont aufgemacht habe. Danach die Küste entlang bis nach Neapel, wo er einige Jahre Pizzabäcker gewesen sei. Weil er sich aber mit der 17-jährigen Tochter des Chefs eingelassen habe, sei Jacques eines Nachts mit der Flinte verjagt worden. Noch heute steckten einige Schrotkugeln in seinem Allerwertesten. Merde! Die täten beim Sitzen verdammt weh. Anschließend sei er nach Venedig und habe als Gondoliere die Touristen umhergeschifft. Nachdem er jedoch den Kahn durch ein Missgeschick versenkt habe, sei Jacques nach Südtirol gezogen. Dort habe er als Gärtner in einem Schloss gearbeitet und Deutsch gelernt. Drei Jahre später sei er schließlich hier gelandet.
Dieser Vagabund unterhält uns bestens. Sally hat über dem angespannten Lauschen ihre Schmerzen vergessen und träumt sich nach Italien.
Ich biete Jacques eine Zigarette an, die er dankend annimmt und schmeiße ihm das Feuerzeug nach hinten. Eine gute Idee, denn endlich vertreibt der Tabakrauch diesen grässlichen Fischgestank.
Ich fahre auf dem kurvenreichen Gebirgspass zügig und richte mich nach Jacques' Anweisungen.
Er meint ängstlich, dass er eine solche Fahrweise nur aus Italien kenne.
Doch ich beruhige ihn mit den Worten, dass ich bisher nur Blechschaden gehabt hätte, verschweige jedoch, wie oft.
YOU ARE READING
Der Entflohene
Mystery / ThrillerDie Geschichte eines Entflohenen. Er wird gejagt. Doch die Häscher kommen immer näher. Gibt es ein Entrinnen?