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Im Radverleih stehen schnittige Rennräder und sogar ein Tandem, doch für uns kommt nur die Trekking-Version in Frage.
Eine Radwanderkarte, die's hier preiswert zu kaufen gibt, wird uns Orientierung bieten.
Der Händler beschreibt den Weg zu einem Reisebüro, das in einer Stadt 110 Kilometer von hier liegt. Dort sollten wir die Räder im Laufe des Tages, am besten bis zwanzig Uhr, wieder abgeben.

Ohne größere Vorkommnisse - Sally hatte einen Platten, ich habe mir bei einem Sturz, als ich einer Katze auswich, das Knie verdreht - erreichen wir bereits um 16.30 Uhr das besagte Reisebüro.
Wir stellen die Räder ab und werfen einen Blick ins Schaufenster, wo auf einem Werbeplakat eine zweiwöchige Reise nach Rio für 2500 Mäuse angeboten wird.
Doch diese Traumreise wird ein Traum bleiben, denn erstens fehlt uns die Kohle und zweitens kämen wir nie und nimmer durch die Kontrollen am Flughafen. Ich hätte ja nicht mal einen Reisepass bei mir.
Die Busfahrt nach Hamburg, die auf dem Plakatständer vor dem Geschäft angeboten wird, ist da weit interessanter. Eine Sightseeingtour mit Hafenrundfahrt zu einem Spottpreis. Dort könnten wir uns von der Gruppe absetzen und im Gewühl der Stadt untertauchen.

Als wir das Reisebüro betreten, ist die junge Frau, offensichtlich die einzige Angestellte in diesem Laden, gerade am Telefonieren. Sie gibt uns ein Zeichen, dass wir schon mal Platz nehmen sollen.
Dann beendet die Frau ihr - was sie nicht verheimlichen konnte - privates Gespräch und folgt uns nach draußen, wo sie die Räder in Empfang nimmt.
Wir sprechen sie auf die Tagestour nach Hamburg an und erfahren, dass wir Glück hätten, weil noch zwei Plätze frei seien. Los gehe es morgen früh um fünf, hier vom Reisebüro aus.
Gebongt! Wir kommen mit.

Gleich gegenüber dem Reisebüro liegt eine schnucklige Pension mit gelber Fassade.
Dort quartieren wir uns ein.
Endlich haben wir mal Glück mit dem Zimmer, denn es ist gepflegt und gut ausgestattet.
Vom Erkerfenster aus haben wir ideale Sicht, können drohende Gefahr rechtzeitig erkennen.
Ich gehe hinaus auf den kleinen Balkon und sehe, dass sich unter ihm dichtes Buschwerk emporrankt. Sollten wir flüchten müssen, springen wir notfalls dort hinein.
Sally knallt sich wie üblich gleich aufs Bett. Sie hat Muskelkater vom Strampeln.

Ich habe eine Pulle Whisky und etwas zum Schmökern für Sally besorgt.
Aus einer Zeitschrift liest sie mir ihr Horoskop vor. Angeblich stehe ihr die nächsten Tage ein großer Nervenkitzel bevor.
Ihr Sternzeichen ist Löwe mit Aszendent Widder. So was haben nur starke Persönlichkeiten.

Vor dem Schlafengehen lasse ich Sally wissen, dass ich es seltsam fände, dass im Moment alles glattgehe. Normalerweise bedeute das nichts Gutes.
Doch Sally macht sich weniger Gedanken und meint, wie's komme, so komme es eben. Man könne eh nix dagegen tun.

In aller Frühe gesellen wir uns zu der Gruppe, die vor dem Reisebüro auf den Bus wartet.
Da Sally das Busfahren schlecht verträgt, muss ich ihr einen guten Platz möglichst vorn sichern.
Daher bin ich, als der Bus vorfährt, als Erster drin. Niemand hat es geschafft, an meinem Ellbogen und der Tasche vorbeizukommen. Die ist heute auch noch besonders schwer, weil wir die Sachen aus dem Rucksack mit hineingezwängt haben.
Natürlich bleiben böse Kommentare von Seiten der anderen Fahrgäste - bei den meisten handelt es sich um Mitglieder des örtlichen Kaninchenzuchtvereins - nicht aus. Doch für einen Rabauken oder Rüpel, wie ich bezeichnet werde, halte ich mich nicht.
Der Busfahrer mit seiner weißen Haut und der Sonnenbrille kommt mir vor wie ein ferngesteuerter Roboter.
Obwohl manche Fahrgäste noch gar nicht auf den Plätzen sind, klappen die Türen auch schon zu und los geht der Höllentrip.
Der Typ hat einen ähnlichen Fahrstil wie ich, sodass die Reisenden die bereitliegenden Kotztüten brauchen werden.
Die laute Volksmusik, die durch den Bus dröhnt, scheint den Fahrer zusätzlich anzuheizen.

Nun geht's mit einem Affenzahn rauf auf die Autobahn. Hier kann der Fahrer endlich alles aus seinem Bus herausholen.
Getränke gibt's vorn beim Roboter, weshalb ich todesmutig die wenigen Schritte dorthin wage.
Ich verlange drei Bierdosen, die der Fahrer einzeln aus dem Kühlfach kramt, wobei er das Lenkrad mit dem kleinen Finger der andern Hand umklammert. Der Typ ist völlig durchgeknallt.
Hinter uns sitzt ein Pensionär mit schwarzer Fliege. Er erzählt uns, dass er früher im Zirkus Messerwerfer gewesen sei. Die letzten Berufsjahre habe seine Sehkraft nachgelassen, weshalb er sich immer wieder mal verworfen habe. Zuletzt habe ihm das einen Prozess wegen Körperverletzung eingebracht. Jetzt sei der Artist froh, dass er sich sesshaft gemacht habe. Das Wanderleben im Zirkuswagen gehöre endlich der Vergangenheit an.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now