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Hauptkommissar Treibel stieß auf die Notiz einer Kollegin, die die Adresse, unter der die Freundin des entlaufenen Mörders zu finden war, ermittelt und auf dem Schreibtisch des Kommissars hinterlegt hatte.
Also machten sich Treibel und sein Praktikant auf den Weg zur angegebenen Adresse.
Treibel war sich sicher, dass die Freundin des gesuchten Mörders mit diesem bereits in Kontakt stand. Auch war ebenso klar, dass sie das in der nun anstehenden Befragung nicht zugeben würde.
Treibel zog drei Konstellationen in Betracht: Entweder war der Gesuchte mit in der Wohnung, was Treibel für nahezu undenkbar hielt, oder die Freundin war allein, wusste aber, wo ihr Partner steckte. Oder - was für den Kommissar am wahrscheinlichsten war - beide waren unterdessen ausgebüchst.

Die Ermittler hatten ihr Ziel erreicht und standen vor einer grauen Mietskaserne, die einen trostlosen Anblick bot. Hier, irgendwo im fünften Stock, musste die Freundin des Mörders wohnen.
Als Treibel und Paul das Gebäude betraten, beschloss der Kommissar, sich zunächst auf die Suche nach dem Hausmeister zu machen, weil es notwendig werden könnte, die Wohnung der Dame öffnen zu lassen.
Treibel wies seinen Praktikanten an, in der Zwischenzeit leise und unauffällig das Treppenhaus auszuspionieren. Besonders solle Paul auf mögliche Fluchtwege für das Gangsterpärchen achten. Am besten gehe er so vor, dass er sich zunächst bis ganz nach oben in den zehnten Stock begebe und anschließend langsam wieder nach unten. Im Treppenhaus werde Treibel seinem Praktikanten dann entgegenkommen.
Paul machte sich auf die Socken und dachte: Einmal rauf und runter, na schön, wenn's der Boss so haben will.

Im fünften Stock stieß der Praktikant auf eine aufgedonnerte Dame im roten Lederkleid, die ihn mit in ihre Wohnung bat. Paul wusste nicht, was die Frau im Schilde führte, folgte aber der Einladung in der Hoffnung, dass die Dame etwas zur Ermittlung beitragen konnte.
Die Frau schloss die Tür und fuhr mit dem angefeuchteten Zeigefinger über Pauls Lippen.
Dann stellte die hübsche Blondine fest, dass er ein bisschen früh dran sei. Und noch so jung. Doch kein Problem, wie er's denn haben wolle, sie kenne keine Tabus.
Als Paul noch überlegte, was diese Frau, die sich als Lola vorstellte, eigentlich von ihm wollte, streifte sie schon mit  geübten Handbewegungen das Lederkleid herunter und machte sich wild über den verdutzten Praktikanten her.
Für den völlig Überrumpelten wurden es lehrreiche und unvergessene Minuten.

Treibel hatte den Hausmeister, der im Unterhemd mit einer Flasche Pils vor ihm stand, gefunden und stellte ihm einige Fragen über die Freundin des vermeintlichen Mörders.
Der Mann fand ausschließlich lobende Worte für die Frau, auch wenn sie gelegentlich mit der Miete etwas im Rückstand sei, was damit zusammenhänge, dass sie keiner geregelten Arbeit nachgehe, immer nur Aushilfsjobs habe.
Nach der kurzen Unterhaltung machte sich Treibel, begleitet vom Hausmeister, auf die Suche nach Paul, konnte ihn im Treppenhaus jedoch nicht finden.

Auch auf dem Platz vor dem Gebäude und am Wagen war nichts vom Praktikanten zu sehen.
Treibel begann, sich Sorgen zu machen und warf sich vor, einen so unerfahrenen Kollegen vorausgeschickt zu haben. Immerhin war der Kommissar für diesen Studenten, der noch feucht hinter den Ohren war, verantwortlich.
Von Minute zu Minute wuchs die Unruhe in Treibel und er befürchtete, Paul könnte von dem Verbrecherpaar in die Wohnung gezerrt worden sein.
Daher ließ sich Treibel vom Hausmeister - wo leise es ging - die Wohnungstür der mutmaßlichen Gangsterbraut öffnen.
Mit der Dienstwaffe im Anschlag betrat Treibel die Räumlichkeiten.
Er musste zunächst einen Überblick über die Wohnung gewinnen und pirschte lautlos von Zimmer zu Zimmer, wobei dem Kommissar hierbei eine besondere Fertigkeit zu Hilfe kam. Denn vor einigen Jahren hatte Treibel die hohe Kunst der Schleichtechnik erlernt, mit der er nahezu geräuschlos auf jeder Art von Bodenbelag umhertappen konnte.
Diese Kenntnis hatte der Kommissar in einem japanischen Ninja-Kurs erworben und dabei auch Kampftechniken der legendären Ninja-Krieger, deren Ausbildung bis zum heutigen Tag nach uralten Regeln erfolgte, trainiert. Das wichtigste Prinzip eines Ninjas war, möglichst lange für den Gegner unsichtbar zu bleiben, um dann plötzlich und blitzschnell aus dem Hinterhalt zu attackieren.

Treibel stellte fest, dass sich in dieser Wohnung niemand befand.
Gerne hätte er die Räume im Rahmen einer Hausdurchsuchung etwas gründlicher unter die Lupe genommen, doch lag dem Kommissar hierfür keine richterliche Anordung vor. Und beim derzeitigen Stand der Ermittlungen würde er eine solche Ermächtigung auch nicht erhalten.
Doch konnte Treibel zumindest aus dem Zustand der Wohnung einige Rückschlüsse ziehen.
So entdeckte der Kommissar, dass im Schlafzimmer die Schranktür offen stand und folgerte beim Anblick der leeren Bügel und Regale, dass aus dem Schrank eindeutig Kleidungsstücke fehlten.
Zudem bemerkte Treibel auf dem davorstehenden Doppelbett auf beiden Seiten zerwühlte Kissen. Indizien dafür, dass sich der Mörder in der Wohnung aufgehalten und mit seiner Freundin die Flucht ergriffen hatte.
Insgesamt machte das Apartment bis auf wenig Schimmelpilz an den Tapeten einen gepflegten Eindruck.
Auf einer Kommode im Flur entdeckte Treibel das gerahmte Foto eines Liebespärchens.
„Ein perfektes Fahndungsfoto", murmelte der Kommissar.
Die martialischen Poster an den Wohnzimmerwänden deuteten auf eine Vorliebe der jungen Frau für Kampfsport hin und Treibel vermutete, dass sie diese Kunst selbst beherrschte.
Er betrachtete die Büchersammlung auf den Schrankregalen. Das konnte bedeuten, dass das Fräulein belesen und ein kluges Köpfchen war. Dies machte die Fahndungsarbeit nicht unbedingt leichter.
Als der Kommissar eine leere Bierflasche auf der Spüle sah, erinnerte er sich an den eigentlichen Grund, warum er diese Räume betreten hatte: den verloren gegangenen Praktikanten.
Rasch verließ Treibel die Wohnung.
Vor der Tür dankte er dem Hausmeister, der dort solange ausgeharrt hatte, für seine Bemühungen und setzte die Suche nach Paul fort.

Nachdem Treibel die Treppe mehrmals hinauf- und hinuntergegangen war, die Kellerräume und den Garten inspiziert und an manchen Türen geklingelt und sich nach dem Praktikanten erkundigt hatte, kam dieser unvermutet mit seltsam verklärtem Blick aus einer Wohung im fünften Stock und lief dem besorgten Kommissar geradewegs in die Arme.
Eine zwielichtige weibliche Person in rotem Lederkleid erschien an der Tür und hauchte Paul die seltsamen Worte zu: „Tschüs, mein Süßer."
Entrüstet über dieses Benehmen fragte der Kommissar die Dame, ob sie seinem Praktikanten, der ja völlig entrückt dreinschaue, etwa Alkohol verabreicht habe.
Die grell aufgeputzte Dame entgegnete lapidar: „Etwas viel Besseres."
Treibel dämmerte allmählich, was in der Wohnung der Verführerin passiert sein musste und war sehr ungehalten über Pauls erotisches Abenteuer. Erbost hielt der Kommissar seinem Praktikanten in Gegenwart der anrüchigen Dame eine gehörige Strafpredigt.
Paul ließ sie wortlos über sich ergehen, hatte er doch bereits beschlossen, Lola morgen anzurufen und zu fragen, ob sie am Wochenende schon etwas vorhabe.
Der Praktikant hatte sich auf Anhieb in die erfahrene Blondine verliebt.


Der EntfloheneWhere stories live. Discover now