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Der Helikopter ist nicht mehr zu hören. Zum Glück auch kein Hundegebell.
Der Regen hat unsere Kleidung durchnässt. Wir sind erschöpft.
Als wir in der felsigen Gegend auf eine Höhle stoßen, gehen wir hinein. Wir brauchen eine kurze Pause.
Hier kann man die Hand nicht vor Augen sehen. Irgendwas flattert haarscharf an unseren Köpfen vorbei. Wir spüren nur einen Luftzug, zucken aber reflexartig zusammen. Fledermäuse.
Ich flüstere Sally zu, dass wir an diesem Ort schweigen müssten, weil jedes Wort durch den Hall mächtig verstärkt werde.
Wir hocken uns hin, lehnen uns an die Wand und sitzen eng aneinandergeschmiegt da. Obwohl wir das Gesicht des andern nicht mehr erkennen, fühlen wir uns selbst in tiefster Finsternis vertraut.
Ich spüre, dass Sally vor Kälte zittert. Die Luft hat sich durch den Regen abgekühlt und in der Höhle ist es feucht.
In unserer Tasche taste ich nach einem trockenen Shirt und reiche es Sally. Auch mein Feuerzeug habe ich entdeckt.
Ich leuchte die Höhle aus. Hinter einem engen Spalt setzt sich der Weg fort. Sollte jemand den Eingang versperren, werden wir einfach weiter in die Höhle vordringen.
Ich denke, dass es eine gute Entscheidung ist, sich in dieser Grotte zu verkriechen. Falls der Hubschrauber noch fliegt, kann er uns hier nicht finden.
Suchhunde haben bei diesem Regen auch keine Chance, haben längst unsere Fährte verloren.
Ich flüstere Sally zu, dass ich Lust hätte, zum Hof des Verräters zurückzukehren und ihm die Sache heimzuzahlen. Ins Schweinegatter, wo der Typ hingehöre, würde ich ihn stecken, dort fesseln und knebeln. Dann ein Schild um seinen Hals hängen mit der Aufschrift: „Ich bin ein dreckiger Verräter!" Damit das mit dem dreckig auch stimme, würde ich ihn mit stinkendem Schweinemist überschütten. Früher seien Verräter - wie mir mein Zellennachbar, der verrückte Historiker, erzählt habe - an Armen und Beinen gefesselt und ins Moor geworfen worden. Im Mittelalter habe man Verräter gevierteilt.
Sally streichelt mir zärtlich über den Arm und flüstert mir sanft zu, ich solle wieder runterkommen. Es sei völliger Wahnsinn, noch einmal auf den Hof zurückzukehren, wo es doch in diesem Wald vor Bullen nur so wimmle.
Sally hat natürlich recht.

Wie lange ich gedöst habe, lässt sich schlecht sagen. Vielleicht eine halbe Stunde.
Vorsichtig spähe ich aus der Höhle und kann nichts Auffälliges entdecken.
Ich wecke Sally.
Wir huschen in den Wald und marschieren weiter, bis wir im Morgengrauen in ein friedlich erscheinendes Nest kommen.
Einen Zeitungsausträger fragen wir nach dem kürzesten Weg nach Hamburg.
Der ältere Mann erklärt ihn zackig und prägnant.
Das war gut verständlich. Wir bedanken uns.
Sally und ich werden die Kleinstadt umgehen. Das ist sicherer.

Am späten Nachmittag befinden wir uns in Hamburg.
Dort steuern wir ein Heim für Obdachlose an, auf das uns ein Passant aufmerksam gemacht hat.
Das Heim entpuppt sich als ein unscheinbarer grauer Kasten mit Flachdach.
Wir betreten den trostlosen Bau und machen uns auf die Suche nach dem Heimleiter.
In seinem Büro begrüßt er uns freundlich und stellt sich als Hannes Piepenbrink vor.
Ein bisschen merkwürdig sieht der Lulatsch aus mit seinem grauen Wuschelkopf und dem eiförmigen Schädel.
Hannes trägt ein grünes Shirt mit der Aufschrift „Yippie, Yippie, Yeah!", was die Menschen positiv stimmen solle.
Wir fragen, wie wir an neue Klamotten kommen könnten.
Kein Problem, entgegnet Hannes, gleich nebenan sei eine Kleiderkammer mit Secondhand-Artikeln. Dort gebe es jedes Kleidungsstück zu einem symbolischen Preis von 50 Cent. Wir könnten gleich mitkommen.

In der Kleiderkiste, wie Hannes den Raum bezeichnet, herrscht ein fürchterlicher Gestank nach Mottenkugeln.
Es dauert nicht lang, bis Sally und ich was Hübsches finden. Sally sehe ich zum ersten Mal im Rock, was ihr gut steht. Auch an dickere Klamotten, die bei einer Seefahrt Wind und Wetter trotzen, denken wir.
Auf unsere Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit antwortet Hannes, dass sich hier im Heim zwei leere Betten bestimmt noch finden ließen.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now