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Im Morgengrauen wache ich auf, weil es mir vorkommt, als hätte ich soeben das Krähen eines Hahns gehört. Womöglich befindet sich hier in der Nähe ein Hof oder eine Siedlung.
Ich setze mich auf und sehe mich verschlafen um. Doch außer Bäumen und Sträuchern kann ich nichts entdecken.

Wenig später machen wir uns auf. Wir wollen erkunden, woher der Hahnenschrei kam.
Als wir ein dichtes Waldstück durchqueren, tut sich uns plötzlich aus heiterem Himmel eine Lichtung auf. Ganz still und einsam steht hier ein Bauernhaus. Erbaut mit viel Holz.
Aus dem Schornstein des Hauses dringt grauer Rauch.
Ein Viehstall mit imposantem Misthaufen davor ist an das Bauernhaus angebaut.
Auf freier Fläche befindet sich eine kleine Scheune mit grauem Schieferdach.
Das Hofgelände ist nach allen Seiten von dichtem Wald umgeben, wobei ein staubiger Feldweg, der vom Hof ausgeht und in den Wald hineinführt, die einzige Verbindung zur Außenwelt zu sein scheint.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Hof umgehen oder um Verpflegung bitten sollen.
Sally ist der Meinung, dass der Hof friedlich wirke, außerdem so abgelegen sei, dass wir kaum ein Risiko eingingen.
Also betreten wir das Gehöft.
Ein Hund an einer Eisenkette gebärt sich wie ein Wahnsinniger.
Dieser Radau veranlasst eine Person, aus einem Fensterchen zu spähen.

Die Bäuerin, eine bucklige alte Frau mit weißem schütterem Haar, tritt aus dem Haus. Sie trägt ein blaues Schürzenkleid und Filzpantoffel.
In den Händen hält sie eine Flinte, mit der sie aufgeregt hin- und herfuchtelt.
Barsch raunzt uns die Alte an, was wir hier zu suchen hätten.
Wir bemühen uns, die verängstigte Frau zu beruhigen.
Sally gibt zu verstehen, dass wir nur einen Schluck Wasser wollten. Wir hätten uns im Wald verirrt, seien die ganze Nacht herumgewandert.
Zum Beweis zeigt Sally der Alten die blutigen Kratzer und Striemen am Körper.
„Hm!", faucht die Bäuerin, wenn wir sie allerdings übers Ohr hauen wollten, werde sie uns abknallen. Auch den Hund könne sie von der Kette lassen.
Als wollte er das bestätigen, fängt das Monster, groß wie ein Kalb, auch gleich an, mit den Zähnen zu fletschen.
Die Alte befiehlt ihrem Raubtier mit Namen Goliath, endlich das Maul zu halten.
Mit entschlossener Miene gebietet sie uns, ihr voraus ins Häuschen zu gehen.
Wachsam folgt sie uns mit der Flinte.

In der großen Bauernstube ist es dunkel. Hier scheint die Zeit seit Jahrzehnten stillzustehen. Doch die Standuhr funktioniert, schlägt siebenmal.
Der Raum ist kärglich ausgestattet, ein Holztisch mit vier Stühlen, ein gusseiserner Ofen, ein Geschirrschränkchen, mehr nicht.

Die alte Bäuerin macht uns Frühstück, brät Rührei.
Eier habe sie genug, erklärt sie, von ihren Hühnern. Sie lebe bescheiden, versorge sich selbst.
Die Bäuerin stellt das Essen auf den Tisch und reicht uns selbst gebackenes Brot.
Die Frau erzählt, sie habe ein kleines Getreidefeld nicht weit weg vom Hof. Sie lebe hier allein. Die letzten Jahre gehe es immer mehr bergab. Jenseits des Waldes liege ein Dorf, wo sie schon jahrelang nicht mehr aufgetaucht sei. Die Dorfbewohner hielten sie wahrscheinlich längst für tot.

Die Bäuerin versorgt Sallys Kratzer und die Schusswunde mit einer selbst gefertigten Salbe aus Spitzwegerichblättern. Im Gespräch erweist sich die Alte als heilkundige Kräuterfrau.
Sally versteht sich mit der Bäuerin gut. Sie erklärt sich damit einverstanden, uns für kurze Zeit einzuquartieren.
In der Kammer, die sie uns zuweist, ist es noch dunkler als in der Wohnstube. Licht dringt nur durch ein winziges Fenster, das auf den Hof zeigt.
Sally und ich müssen uns ein Bett teilen, was uns nur recht ist. Die Matratze erweist sich als durchgelegen, unter dem Bett steht ein Pisspott, der uns den nächtlichen Weg zum Plumpsklo erspart.
Doch wir wollen uns nicht beklagen, denn ist schön, überhaupt ein Dach über den Kopf zu haben.

Der EntfloheneWhere stories live. Discover now