Hannes hat uns ein Zimmer zugewiesen, das wir uns mit einem obdachlosen Dauergast teilen müssen.
Ein ungelüfteter kleiner Raum mit zwei Hochbetten an der Wand. Das eine ist für uns.
Wir sehen uns im Heim, in dem es streng nach Pisse riecht, ein bisschen um. Viele der Penner, die sich auf den Gängen herumtreiben, scheinen vom Alk zugedröhnt zu sein, obwohl er hier offiziell verboten ist.
Überall liegt Unrat, doch wir sind froh, überhaupt ein Dach über den Kopf zu haben.Zurück in unserem Zimmer treffen wir auf den Obdachlosen, der hier einquartiert ist.
Als wir uns dem Kerl vorstellen, lacht er nur bekloppt, was sich anhört wie das Wiehern eines alten Gauls, und mustert Sally mit einem breiten, anzüglichen Grinsen.
Ein gewöhnungsbedürftiger Typ, dem ständig der Rotz läuft, den er mit einem scheußlichen Schniefen hochzieht, manchmal auch mit seinem Ärmel abwischt. An der Stirn hat der Penner das Wort „Fuck" eintätowiert, das rechte Auge ist zugenarbt.
Am besten ignorieren wir den Kerl einfach.Bevor das Heim um zehn dichtmacht, wollen Sally und ich noch eine Runde im Kiez drehen und uns überlegen, wie wir am besten an ein bisschen Kohle kommen. Derzeit sind wir abgebrannt und brauchen Zaster für die Überfahrt.
Ich könnte versuchen, das Geld mit Zocken einzutreiben. Früher habe ich beim Pokern immer ordentlich abgeräumt. Doch fehlen mir im Moment die Moneten für den Einsatz und eine Garantie auf einen Gewinn gibt's auch für mich nicht.Wir trotten durch das Rotlichtviertel, haben unsere Tasche dabei. Die können wir nicht so einfach im Heim stehen lassen.
Um Knete aufzutreiben, entschließen wir uns zu einem alten Trick. Hierbei stellt sich Sally auf den Gehsteig und mimt die unwiderstehlich verruchte Hure, indem Sally den Rock neckisch übers Knie zieht. Ich weiß, sie nimmt das linke, weil der rechte Schenkel durch den Unfall als Kind vernarbt ist. Unterdessen verkrieche ich mich in eine dunkle Seitengasse, begebe mich wie ein Wolf auf die Lauer.
Die vorbeigehenden Bonzen verfolgt Sally mit verführerischem Blick aus einem schüchtern gesenkten Kopf. Das beherrscht sie perfekt.
Ein abgewrackter Kerl mit Zahnlücken bleibt stehen und bietet einen Fünfziger, um zu erkunden - wie der Perverse sich ausdrückt - was unter Sallys Rock stecke.
Doch der Knülch hat mit Sicherheit keine Kohle im Portemonnaie und blitzt bei Sally ab.
Aus meinem Versteck beobachte ich amüsiert ihre Schauspielkünste. Ich denke, Sally hat Talent, ist für alle vorbeischwänzelnden Männer die Versuchung pur.Minuten später taucht eine fette Beute auf: ein Kerl, Mitte dreißig, im anthrazitfarbenen Anzug. Der Typ trägt einen Aktenkoffer, scheint im Big Business zu Hause zu sein. Der vermeintliche Geldsack bleibt stehen und mustert Sally kritisch von oben bis unten, wie er es wahrscheinlich immer bei solchen Gelegenheiten tut. Auf diese Weise scheint er zu urteilen, ob eine Nutte sauber ist, ihm am Ende nicht noch einen Tripper andreht.
Der Hecht beißt an. Kein Wunder, denn Sally versteht es, die Männer um den Finger zu wickeln.
Sie spielt mit dem Typen, macht ihn scharf, fragt frech, ob er etwas Unterhaltung wolle.
So was gefällt ihm. Er wird zapplig.
Sally lädt ihn ein, mit in ihr Apartment um die Ecke zu kommen und lockt ihn so in die Seitengasse, direkt auf mich zu.
Jetzt bedarf es nur noch eines klitzekleinen Faustschlags und der kommt aus der Dunkelheit, für den feinen Pinkel unsichtbar und überraschend.
Er beginnt - von den anderen Passanten unbemerkt - zu taumeln und sackt dann bewusstlos zu Boden.Der richtig dosierte Faustschlag ist eine Form der Kunst, vergleichbar mit dem Modellieren einer ausdrucksstarken Plastik oder dem Reimen schöner Verse. Für den perfekten Faustschlag, der den Gegner mattsetzen, aber nicht verletzen will, ist es beim Zuschlagen wichtig, die Hüfte mit zum Einsatz zu bringen und mit der Faust, die auf dem Weg zum Gegner ist, eine Drehbewegung auszuführen. Am effektivsten sind der Aufwärtshaken, der Uppercut, und der Haken von der Seite. In beiden Fällen sollte man das Kinn des Gegenübers anvisieren und es ist selbstverständlich, die Stärke des Schlages der Konstitution des Gegners anzupassen. Das erfordert ein bisschen Erfahrung und vor allem Konzentration. Streng zu vermeiden ist der Einsatz des Faustrückens, denn dieser macht den Schlag unkalkulierbar und kann zu schwersten Verletzungen führen.
Ich halte mich - was die Ausführung eines perfekten Faustschlags angeht - für einen begnadeten Meister und wage sogar, exakt zu sagen, wann dieser Bonze, der da vor uns liegt, wieder zu Bewusstsein kommt: in viereinhalb Minuten.Sally pufft mich und fragt, ob mit mir alles in Ordung sei.
Na klar, alles roger.
Ich sehe, dass der Kerl eine fette Uhr am Handgelenk hat, doch die kann er behalten, die interessiert uns nicht.
Wir brauchen Bares und im Portemonnaie des Bonzen finden wir ein dickes Bündel davon. Wie ich im schwachen Laternenlicht gerade noch erkennen kann, hat der Kerl in der Geldbörse neben einigen Präsern auch ein Bild seiner Schickimicki-Frau und seiner Tochter, die mich süß aus einem Engelsgesicht anlächelt.
Verdammter Hurenbock, flüstere ich dem Bewusstlosen zu.
Sally packt mich am Shirt und meint, wir sollten jetzt von hier verschwinden.
Mit einem schönen Batzen Geld machen wir uns aus dem Staub.Die Nacht in dem versifften Pennerheim ist die Hölle. Laut und eng, weil wir uns beide unten ins Stockbett gelegt und sogar die Kleidung anbehalten haben. Ich versuche, mich möglichst nicht zu drehen, denn zum einen will ich Sally nicht wecken, zum andern könnte jede ungeschickte Bewegung das Bett zum Einkrachen bringen.
Der einäugige Zimmergenosse liegt uns gegenüber und sägt, als wollte er einen ganzen Wald abholzen.
Trotzdem schlummere ich vor lauter Müdigkeit ein.Irgendwann in der Nacht wache ich auf und spüre, dass der Penner sich an meiner Hosentasche zu schaffen macht, um unsere sauer verdiente Kohle herauszufingern.
Ich funke dazwischen und schubse den Dieb kräftig nach hinten.
Es knallt und ich schlafe weiter.Am Morgen sehen wir die Bescherung. Unser Zimmergenosse liegt leblos vor seinem Bett.
Über der geronnenen Blutlache am Boden kreisen fette Schmeißfliegen.
Das gesunde Auge hat der Penner offen und starrt damit leer an die Decke.
Ich befürchte, er ist mit dem Schädel auf die Bettkante geknallt, als ich ihn vergangene Nacht weggestoßen habe.
Sally ist schockiert, sagt zunächst gar nichts.
Ich lange dem Kerl an die Stirn. Sie ist schon ganz kalt.
Mir tut's sehr leid, was passiert ist. Es war keine Absicht.
Sally rät, wir sollten schleunigst weg von hier.
YOU ARE READING
Der Entflohene
Mystery / ThrillerDie Geschichte eines Entflohenen. Er wird gejagt. Doch die Häscher kommen immer näher. Gibt es ein Entrinnen?