9 - Nein

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Er dreht sich zwischendrin von mir weg und hebt die Hand ans Kinn, sodass er gar nicht merkt, wie ich die Augen weiter öffne. Ich erstarre noch mehr zur Salzsäule, als ich sehe, wo ich bin.

Meine Augen weiten sich.
Ich fühle mich wie in der Zeit zurückversetzt, denn vor mir liegt ein kleines Mädchen zusammengerollt neben einem Grabstein und klammert sich an eine einzelne weiße Rose. Ich höre ihr leises schluchzen und sehe ihr starkes Zittern.

Sie flüstert liebende Worte an den Toten, ohne sich bewusst zu sein, dass dieser sie - wenn er sie hören kann - nicht verstehen kann. Zu leise, zu zitternd ist ihre Stimme und zu wenig versteht sie selbst, was sie da alles vor sich hin murmelt, während die Dornen des Rosenstiels in ihrer Hand immer mehr tiefe Schnitte und Kratzer verursachen.

Ich kenne sie kaum mehr und doch besser als jeder andere. Ich kenne sie, weil wir beide etwas entscheidendes Teilen: Unser Leben. Ihres ist meines und andersherum, nur dass ihres noch um 9 Jahre jünger ist.

Langsam gehe ich einen Schritt zurück. Ich lege die Hand krampfhaft auf meinen Mund, um einen Schluchtzer zu unterdrücken. Nein! Das kann nicht... Wieso bringt er mich in diese Zeit?! Was bezweckt Kurama damit? Will er mir Angst machen? Mir seine Macht demonstrieren? Mich zu irgendetwas zwingen?

Ich starre wie hypnotisiert auf das Grab meines Vaters und mich selbst daneben.

"Hey, du hyperventilierst ja gleich! Was ist denn los?!", fragt Kurama, stellt sich dabei hinter mich und hält meine Schultern fest, scheinbar für den Fall, dass ich gleich zusammenklappe.

Er betrachtet meine Hand und meinen Gesichtsausdruck eingehend von der Seite und folgt dann meinem Blick. Erst erkennt er es nicht, aber dann sieht er mich geschockt an.

"Scheiße! Oh, shit! Es tut mir wirklich leid! Ich wusste nicht, dass du von sowas träumst! Es tut mir ja so leid! Wäre ich nicht hier, würdest du dich an das hier gar nicht erinnern! Ich hätte dich einfach erstmal in Ruhe lassen sollen, dich nur telepathisch beobachten. Verflucht!", brabbelt er, wovon ich jedoch kaum etwas mitbekomme.

Auf einmal zieht sich wieder alles zusammen. Diesmal lasse ich die Augen offen und erkenne, dass dieser Zeitsprung nur einige Millisekunden in Anspruch nimmt.

"Das ist kein- egal. Kann ich irgendwie helfen? Gibt es irgendeinen Ort, den du gerade gerne sehen möchtest?"

Ich bin wieder in meinem Zimmer, es ist alles okay, rede ich mir ein. Ich wiederhole es immer und immer wieder, geradezu hektisch schmeiße ich die Worte in meinem Kopf herum und Versuche, sie irgendwie zur Realität werden zu lassen, doch es klappt nicht.

Wieso, kommt mir eine Frage in den Kopf, die ich mir noch nie gestellt habe. Wieso war er überhaupt da, als es passierte? Er hätte sonstwo sein können, aber nein, er war auch in dieser verschissenen Lagerhalle, wo verschissene Cobs einen verschissenen Verbrecher jagen mussten! Wieso war er überhaupt da?

"Was hat dein Vater beruflich gemacht?", fragt Kurama aufrichtig betroffen klingend.

"Er war Arzt," antworte ich. "Notarzt. So einer, der den Menschen um ihn herum nie Böses gewünscht hat. Man hätte ihn komplett hintergehen und sein Leben zerstören können und er hätte einem immernoch bei jedem noch so kleinen oder großen Problem geholfen. Er hätte immernoch jede Art von Opfer gegeben um andere glücklich zu sehen."
Das Einzige, was tabu war, war seine Familie., füge ich gedanklich hinzu.

"Er klingt nach einem tollen Mann. Ich wünschte, ich würde so jemanden kennen.... Ich hätte deinen Vater gern gekannt. Muss ja herzensgut gewesen sein." Er lächelt schwach.

Nidergeschlagen senke ich den Blick und hebe ihn nicht wieder.

Es folgt Stille.
Warten.

Er seufzt. "Hey Cari... Es tut mir leid."

"Was tut dir leid?"

"Ich weiß, dass du das gerade nicht wirklich verstanden hast... Oder zumindest falsch. Ich wollte dir das nicht zeigen. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn ich zu deinem geistigen Zustand springe. Das eben... war einer deiner Träume. Du bemerkst es vielleicht selbst nicht, aber du scheinst des Öfteren so zu träumen... sonst wären wir da nicht hin gekommen," erklärt er. Nicht gerade schlüssig, wie ich finde.

"Und du denkst, ich würde dir das jetzt einfach so glauben?"

"Ja?"

"Ist das eine Frage oder eine Antwort?"

Er seufzt erneut. "Ich will nicht nochmal etwas falsch machen, aber ich kann dir noch etwas zeigen. Ich denke, das könnte eher einleuchten und ist nicht so schmerzhaft für dich."

Ich sehe ihn misstrauisch an.

Ich kenne Kurama nicht näher - ganze fünfundzwanzig Minuten wenn es hoch kommt - und neige jetzt schon zu übermäßig viel Vertrauen zu diesem... diesem FREMDEN! Ich muss besser aufpassen. Er ist hundertpro übernatürlicher Natur. Er kann bestimmt nicht nur Telepathie. Er könnte jetzt gerade meine Gedanken steuern und ich würde es nicht bemerken. Angsteinflößend, aber die Wahrheit.
Andererseits... ein Versuch kann nicht schaden. Was soll schon passieren? Dass ich sterbe? Kann ich auch hier. Er könnte mich jederzeit umbringen. Das hat er mir alleine mit seinem Eindringen schon bewiesen.

"Gut, aber ich will vorher wissen, was passieren wird," stimme ich daher zu.

Er nickt und setzt zum sprechen an, aber auf einmal verschwimmt meine Umwelt. Erst langsam, dann immer schneller. Ich kann nur noch Kuramas angestrengtes Gesicht sehen. Er öffnet seinen Mund erneut: "Ich denke, das wird Erklärung genug sein. Wenn ich wiederkommen darf, hilf mir," höre ich ihn noch sagen. Ich will fragen, wie, aber es geht nicht. Es kommt kein Ton aus mir raus.

"Ich hab dich auch lieb. Leider kann ich dir das Aufstehen nicht näher erklären. Aber vielleicht deine Hausaufgaben in Bio."

"H-Hey Mama. Wie lange bist du schon wieder zu Hause?"

Lächelnd dreht sie sich nochmal zu mir um. "Gerade gekommen. Ich schmeiß schnell noch die Waschmaschine an. Kochst du?"

Ich nicke, lasse aber meinen Kopf nochmal sinken. "Fünf Minuten," nuschle ich.

"Klar," meint sie, während sie sich wieder von meinem Zimmer entfernt.

Das Geheimnis der drei BücherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt