Gefühlte Stunden war ich im Schloss herumgeirrt und hatte mich fuchsteufelswütend gedacht. Am liebsten hätte ich so lange auf den Mann, der vorgab Shinuja zu sein, eingedroschen bis er mir verriet, wie ich zurück gelangen konnte. Leider sah er dafür einfach zu sehr aus wie Shin. Jeden Stein hatte ich umgedreht, bis ich es endlich in die Burg - die echte Burg - zurückgeschafft hatte.
Zu meiner Scham war die Lösung des Problems viel einfacher, als ich dachte. Es gab eine kaum sichtbare Schneise am Ausgangspunkt dieses komischen Ereignisses, an der ich einfach noch einmal das Papier betrachtete. Sofort war ich wieder bei Maltino, allerdings ohne die Wache, was mich noch immer beunruhigt. Maltino meint, wir wären zeitgleich verschwunden, weshalb er annahm, mit uns wäre das selbe passiert. Das wirft allerdings neue Fragen auf: Wo waren wir? Wie kamen wir dort hin? Weshalb habe ich Shinuya dort gesehen? Und was war Sinn und Zweck des Ganzen?Grübelnd lasse ich mich des Abends auf den Meditationssessel meiner Mutter fallen, die mich dafür wahrscheinlich rügen würde, würde sie sich trauen. Stattdessen begnügt sie sich mit einem kurzen Seitenblick - mehr darf man wohl bei mir nicht mehr.
Zögerlich setzt sich meine Mutter auf das Sofa zu meiner linken, zwischen uns die Kluft des Schweigens. Unruhig nestelt sie an ihrer Bluse. Ihr ist anzusehen, dass sie lieber gehen würde, es aber als ihre Pflicht sieht, sich mir zur Verfügung zu stellen. Wie ein verdammter Diener.
"Wie war dein Tag?" Die Frage überrascht mich. Normalerweise fragt sie, ob ich Durst habe, Bücher oder dergleichen gebracht bekommen möchte, manchmal, welche sie Musik anschalten soll, aber noch nie hat sie nach mir als Person gefragt. Tja, irgendwann ist halt immer das erste mal. Auch wenn das in dem Fall reichlich spät kommt.Kurz überlege ich, ihr von den Ereignissen zu berichten, sehe aber ein, dass eine solche Unterhaltung nichts für eine Mutter ist, die quasi seit ich drei bin in meinen Diensten steht und sich auch auch genau so verhält. Sie würde nur antworten, was sie denkt, dass ich es hören will und innerlich auf Reset drücken, sobald sie den Raum verlässt. Also antworte ich schlicht "Verwirrend". Damit hat es sich für meine Erzeugerin und sie verschwindet in der Küche, um mir wie immer ein Roggenbrot mit Honig zu bestreichen. Aus irgendeinem Grund denkt sie, ich sei verrückt danach, obwohl es trotz seinen eigentlich leckeren Bestandteilen einfach trocken und geschmackslos ist. Ich esse es eigentlich nur, um nicht den letzten Rest Vertrautheit zwischen uns zu verlieren.
"Hier, bitte. Brauchst du noch etwas?" Damit stellt sie ein Tablett vor mir ab; wie erwartet befinden sich darauf zwei Scheiben honigbestrichenes Roggenbrot, jedoch glücklicherweise auch ein Glas Milch.
"Nein, danke," antworte ich und kurz darauf ist sie auch schon verschwunden.Gedanklich suche ich wieder einmal die Ruhe. Vor meinem inneren Auge ziehen sich Hauswände hoch, dicht aneinander reihen sich Häuser verschiedenster Form und Farbe, mit Fenstern so groß, dass sie eine ganze Hauswand einnehmen bishin zu solchen, die man sie erst auf den zweiten Blick sieht. Türen mit und ohne Rahmen, verziert mit Schnörkeln, Mustern, Bildern. Jedes Mal aufs neue fasziniert mich der Anblick der Häuser, die sich Tag für Tag, manchmal sogar Stunde für Stunde anders ordnen, umformen oder sich sonstwie verändern.
Als ich mich umwende erkenne ich drei Häuser, die sich seit ewiger Zeit nicht verändert haben:
Eine der Türen trägt die Aufschrift "Mein Reich, meine Regeln", versteckt in zig schwarz-weißen Worten, zusammenhanslos und doch alle treffend. Ich lese "Merkur", "Fete" und "Noel", drei Worte, die niemals kombiniert werden sollten, solange sie im Raum ist. Die Rede ist von Courtesy McFay, der Oberrichterin und Abgeordneten des Gegners sowie Diktator ihres Geistes. Niemand wagt sich, ihr zu nahe zu kommen, zurecht, wenn man mich fragt. Die kräftige Russin ist von schlanker, kantiger Figur und verhält sich ihres Geistes entsprechend herrisch. Wer sich ihr nähert erhält giftige Blicke, obgleich ihre Mutter eine von uns war hegt sie eine tiefe Abneigung gegen mein Volk und bringt diese auch genügend zum Ausdruck. Besonders die Weihnachtsfeier letztes Jahr hat ihr gestunken und sie hat wortwörtloch Feuer gespien, als die Merkur-Truppe versuchte, sie zu einer kleinen Trinkrunde zu ermutigen. Ihre Weltanschauung ist wie die Schrift auf ihrer Tür schwarz-weiß und lässt keinen Platz für Spekulstionen, was uns betrifft. Das erschwert natürlich die Verhandlungen mit ihren Leuten, da sie als Mittelsmann fungiert. Ebenso ist der Umgang nit ihr eisig, versteinert, sie lässt nicht mit sich reden oder sich helfen. Ein wenig witzig ist es schon, wie sie alles ablehnt, was mit uns und unserer Gemeinschaft zu tun hat, aber gleichzeitig unsere wichtigste Verbindung zu ihrer Art ist.
Die beiden anderen Häuser könnten, wie ihres, nicht treffender sein. Eines besitzt einen gelben Anstrich und eine Tür, die eigentlich keine ist. Sunny Hampton besitzt, wie ihr Name schon sagt, das sonnigste Gemüt, der mir bekannten Welt. Sie ist offen für alles und akzeptiert jeden, wie er ist. Sie würde selbst um eine zerquetachte Mücke trauern, womit sie die ideale Chefärztin abgibt.
Auch das Haus meines Vorgängers liegt in stetem Einklang. Holzverkleidung und geschlossene mittelalterliche Flügelfenster sind kombiniert mit einer dunklen Holztür demonstrieren mir erneut, wie sehr sich sein Gerist im Einklang und in der Ruhe befindet. Er hat noch immer die Kontrolle, die Sturheit und die Gelassenheit, Dinge, die er mir schon vom ersten Tag an vermitteln wollte und dabei tatsächlich auch Erfolg hatte. Wenn ich mich daran erinnere, wie er mir eingetrichtert hat, immer zu verstehen bevor ich handle, muss ich grinsen. Der verrückte Alte hat mir tatsächlich den Überraschungseffekt genommen: Ich observiere, kontrolliere und bin immer informiert. Bei allem. Deshalb beunruhigt mich die Sache mit dem Jägerpagen sogar nich mehr. Wie konnte ich davon nichts mitbekommen? Konzentriere ich mich zu sehr auf meinen Gegner? Habe ich etwa vergessen, meine eigenen Reihen zu prüfen?Ich gehe an ihrem und den beiden anderen Häusern vorbei, denn unglücklicherweise muss ich mich nun mit dem kompletten Gegenteil beschäftigen: dem einzigen Haus, das sich schon beinahe sekündlich verändert. Der unstabile Charakter des Mädchens ist schon lange kein Geheimnis mehr, was sie auch zum Hauptziel feindlicher Attacken macht. Ist sie gerade in Stimmung, verrät sie jeden, der ihr nahe steht, nur um später ihr gandeln zu bereien und schon kurz darauf wieder zu bekräftigen. Sie weiß vielleicht nicht viel, aber genug, um eine kleine Sicherheitslücke darzustellen. Als ich die Augen schließe fühle ich, wie ihr Geist vor mir erscheint (oder ich vor ihrem Geist. Da das nicht wirklich kontrollierbar ist, muss ich wohl oder übel mit meinem Halbwissen vorlieb nehmen). Seufzend trete ich in das Haus ein, dessen Tür sich noch in meiner Hand verformt. Aufmerksam betrachte ich ihre verrückte Traumwelt, bis ich sie kurz darauf gegen ihren Gedankenraum eintausche. Lasset die Qual beginnen.
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Das Geheimnis der drei Bücher
RandomDrei Bücher, sieben Geheimnisse, Gedankenleserei und zu viele Wesen, die eigentlich nicht existieren sollten - und sie mittendrin: Carolin, ein eigentlich unauffälliges Mädchen, vermeidet näheren Kontakt mit den meisten anderen Schülern und versucht...