30 - Zwei Fremde

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Wir lösen uns gerade wieder von einander, als ich ein leises Geräusch vernehme. Es ist minimal und trotzdem schnelle ich herum. Drei Personen stehen am gegenüberliegenden Fahrbahnrand. Eine auf einem Fahrrad, den Fuß auf dem Bürgersteig und zwei daneben. Alle uns zugewandt. Liz, Jonathan und irgendeine aus der a.
Zögerlich winke ich zu ihnen rüber. Was soll ich Liz denn jetzt sagen? Dass Vince momentan bei mir wohnt, meine Mutter krampfhaft versucht, einen Mann ran zu schaffen und dass mein leiblicher Vater gestorben ist, als ich sechs war? Bestimmt nicht. Aber was dann??

"Hey, Liz!", ruft da schon Vincent. Er bedenkt mich mit einem kurzen  Seitenblick und überquert dann die breite Straße.

"Hallo Vincent," grüßt diese zurück und breitet freudestrahlend ihre Arme aus. Leider starrt sie mich während dessen an. Ihr besorgter Blick scannt meine Wangen und Augen so intensiv, dass die bereits roten Stellen zu brennen beginnen. Ich leuchte bestimmt tomatenrot, denke ich voller Scham und senke den Blick.

Auf einmal bin ich wieder in der Vergangenheit. Ich fühle mich, als seien alle Gefühle verschwunden. In mir ist nichts als die Gewissheit, dass ich jetzt wieder die kleine, hilflose Carolin bin. Die, die niemanden wirklich an sich ran lässt und die, über die sich Tag für Tag das Maul zerrissen wird. Morgen werden mich wieder alle anstarren wenn ich die Schule betrete. Vor meinem Spind wird ein Mädchen stehen, das mich aus Teufelsaugen betrachten wird. Dasselbe Mädchen, dasselbe Problem. Derselbe Tratsch, dieselbe Gehässigkeit. Und sie wird sich so gut dabei fühlen, wenn sie mir in die Augen sieht und dann Vince-

Meine Gedanken verwirren mich. Vincent ist für mich nur ein Freund. Nicht mein Freund und auch kein Lover. Er ist Vince und eigentlich - für mich - schon mein bester Freund.
Noan war da eine ganz andere Nummer. Ich dachte, er will was von mir und habe versucht, mich dementsprechend zu verhalten. Einmal habe ich sogar versucht, ihn zu küssen... Im Nachhinein bin ich froh, dass mein Handy mich davon abgehalten hat. Braves kleines Ding, denke ich verbittert, bevor ich stocksteif über die Straße laufe. Zumindest werde ich dann nicht als feiges Huhn beschimpft.

Mit all der Entschlossenheit, die ich gerade aufbringen kann, sehe ich Liz in die Augen. Sie betrachtet mich überrascht. Der Triumph gegenüber ihrem losen Mundwerk scheint mir sicher. Wenn sie jetzt was weitersagt, wird sie auch zu Ende erzählen - das weiß ich.
"Hey, Liz," sage ich dann. Meine Hand hebt sich wie von selbst, um mit Jonath abzuklatschen und dann fragend die unbekannte Schülerin anzusehen.

Nach kurzem Zögern streckt diese mir die Hand entgegen. "Ania," meckert sie schon fast. Ihre Hochnäsigkeit scheint  unübertroffen, was mitunter ein Grund ist, weshalb ich ihr nicht die Hand gebe. Stattdessen nicke ich kurz und erwidere die Vorstellung zehntausend Mal freundlicher, als sie es überhaupt zu können scheint. Das eingeschnappte Schnauben ignoriere ich dabei.

Mit mehr Fassung, als ich mir selbst zugetraut hätte, drehe ich mich wieder zu Liz. Die widerum sieht aus, als hätte sie mehr Fragen, als ich beantworten kann und will, weshalb ich mich schnell wieder zu Jonath drehe. "Hey," grüße ich ihn erneut. Erneut wird der Gruß erwidert.

Hilflos sehe ich zu Vince, der mich bisher nur zappeln lässt. Doch auch jetzt scheint er nicht das Bedürfnis zu haben, mir zu helfen, also ergreife ich selbst das Wort: "Jonath, wo ist eigentlich deine Oma? Ich wollte ihr vor ein paar Tagen was vorbei bringen..."

Beinahe sofort hellen sich Jonaths Augen auf und er fällt in gemütlichen Plauderton. "Für eine Weile in Italien. Sie hat sich bei ihrem Bruder einquartiert und will ihn jetzt tagtäglich dazu überreden, mit ihr wandern zu gehen." Er lacht. Sein freundliches, offenes Jonath-Lachen, das jedem das Herz erwärmt. Zumindest kommt es mir so vor. Er ist einfach ein unglaublich herzlicher Mensch. Und doch erreicht mich dieses Lachen gerade nicht wirklich, seufze ich innerlich, während ich mich seinem Ton anpasse und wir weiter über seine Oma reden.

Während dessen scheint Vincent sich zu Liz gestellt zuhaben, denn ich kann sie leise flüstern hören. Als ich zu den beiden sehe, erkenne ich, dass Liz leise versucht, Vince auszufragen, während ihre Freundin gelangweilt auf ihrem Handy herum tippt.

Ein leises Seufzen entfährt mir, worauf Jonath zum Glück nicht eingeht. Stattdessen fragt er, wo es hin ginge. Meine Antwort kommentiert er mit einer wegwerfenden Geste. "Dann sollten wir euch wohl nicht länger aufhalten," meint er lauter als nötig.

* * *

Ich bin froh, mich endlich verabschiedet zu haben... Ja, das bin ich... Wirklich! Nur irgendwie.... ist das hier auch nicht besser.

Genervt trete ich in die Pedale und lasse diese Folter über mich ergehen. Nachdem Vincent mich die letzte halbe Stunde - sowohl auf dem Fahrrad, als auch im Supermarkt - nur mitfühlend angesehen hat sind wir jetzt auf dem Rückweg. Bisschen Trauer hier, bisschen Sorge da, das Übliche halt!, denke ich erneut verbittert und trete weiter. Komm schon Caro. Er versucht nur, zu helfen. Und das kann er nunmal nur, wenn er die Situation auch versteht.

"Wieso erzählst du Liz nichts... davon?" Die komische Betonung auf 'davon' gefällt mir gar nicht und die frage genauso wenig.

Bisher habe ich nur vage geantwortet, also ist das hier die einzige Antwort, die er heute kriegen wird: "Weil ich weiß, dass sie mich jederzeit fallen lassen kann und das zu gegebener Zeit auch tuen wird." Ich sage es leise, undeutlich und unwillig und trotzdem scheint Vincent es zu verstehen, was mich dazu veranlasst, wieder ein Stückchen schneller in die Pedale zu treten und ihn somit zu überholen. Und bei mir ist das genauso. Ich kann jederzeit jeden zurück lassen. Ohne Reue. Zumindest, was diese zwei anbelangt. Ich mag sie, aber sie könnten sich genauso in Luft auflösen. Das macht mir nichts.
Bei Vincent allerdings bröckelt meine wohlbehütete Distanz...
Unwillig, das so hin zu nehmen, trete ich wieder stärker in die Pedale, vernehme jedoch kurz danach ein Röcheln hinter mir. Ich verlangsame also mein Tempo wieder und fahre gemütlichen Tretens wieder in Richtung meines Elternhauses.

Das Geheimnis der drei BücherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt