20 - Überlegungen

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"Denkst du auch bevor du sprichst?", schmeiße ich ihm wütend an's Gesicht. "Deine Eltern haben doch bestimmt ein Hotelzimmer oder sowas gebucht, damit ihr nicht in einer unterkühlten Wohnung übernachten müsst. Wo ist das?"

"Achso, das... Also meine Eltern sind nicht mit her gekommen, sondern kommen in einem Monat nach. Und mein Handy habe ich irgendwie nicht mehr gefunden, also konnte ich auch meine Eltern noch nicht anrufen. Also wegen dem Haus... Hehe," gibt er unerwarteter Weise komplett sorglos von sich. Trotzdem hört man eine unterdrückte Anspannung heraus. Er rechnet wohl damit, gleich ein paar Schläge zu kassieren.

Hirnverbrannter Vollidiot! Wieso ist er nur so dämlich?! Er will Schläge? Die kann er haben!

Nichtsdestotrotz halte ich mich unter Kontrolle und frage stattdessen: "Und wo schläfst du dann bis jetzt?" Und wozu brauche ich deine Nummer, wenn du gerade nichtmal ein Handy hast?

"Na, im Haus." Als er das sagt schrillen bei mir alle Alarmglocken. Es ist zwar bald Sommer, aber die Betonung liegt auf bald. Das ist schweinekalt nachtsüber! Toll, jetzt tut er mir doch leid.

Er grinst. "Halb so schlimm. Ist ja nur das Wohnzimmer, das brauche ich nicht wirklich."

"Wird das nachts nicht total kalt?" Ich fröstle allein bei der Vorstellung und was macht er? Er tut es als Nichtigkeit ab!

"Zwei, drei Decken, dann klappt das schon."

"Sag mal, hast du sie noch alle? So klappt das nie im Leben!", gifte ich ihn halb besorgt, halb entrüstet an.

"Und was schlägst du dann vor?" Abwertend. Das ist, wie ich seinen Tonfall beschreiben würde. Dennoch fällt mir die Wut in seinen Augen auf. Diese Erkenntnis sorgt aber nicht dafür, dass ich mich - wie jeder andere sonst - entmutigt fühle oder Schiss vor ihm habe, sondern, als wäre meine neu fewonnene Streitlustigkeit nicht genug, steigert seine aufkeimende Wut meine ins Unermessliche.

"Du sagtest, du seist schon Freitag hier gewesen! Du hättest doch einfach zu Nachbarn gehen und von da aus telefonieren können! Dann hättest du bestimmt mittlerweile eine Unterkunft! Außerdem machen sich deine Eltern so doch Sorgen um dich!", zicke ich ihn also wütend an. Lustiger Weise sieht er mich mit großen Augen geschockt an. Ach, ich könnte mich wegschmeißen vor Lachen! Wofür aber meine Wut zu groß ist.

Als er weiterhin stumm bleibt, stehe ich auf und gehe weg von ihm in Richtung Weidetor. Wie erwartet folgt er mir nach kurzer, mit Wut aufgeladener Zeit und wir setzen den Weg zu mir nach Hause gemeinsam fort. Nach und nach vergeht meine Wut und ich fange an, etwas gelassener auf ihn einzureden:
"Ich werde meine Mutter bitten, dich im Gästezimmer übernachten zu lassen. Ich denke nicht, dass sie was dagegen hat. Schließlich hast du keine andere Option. Ich denke, sie wird dir gerne helfen."

Vincent bleibt still, scheint zu überlegen, was er antworten soll, während er mich verdutzt anstarrt. Irgendwann scheint er näher über meine Worte nachgedacht zu haben, denn er stellt die eine unvermeidliche Frage, ohne zu wissen, wie weh er mir damit tut. "Und was ist mit deinem Vater? Ist der gar nicht da? Oder ist es ihm einfach egal?"

"Ersteres," antworte ich schwach. Seine misstrauische Miene ignoriere ich dabei standhaft. Mit ihm muss ich echt nicht über Papa reden. Das geht ihn nichts an.

"Danke," antwortet er nach erneuter kurzer Denkpause seinerseits. Die Dankbarkeit ist aus seiner leisen Stimme deutlich heraus zu hören. Es klingt so aufrichtig, dass mir der Atem stockt. Noch nie war jemand tatsächlich so ehrlich und von ihm hätte ich das schonmal gar nicht erwartet.

"Lobe den Tag nicht vorm Abend; Noch ist nichts entschieden," ärgere ich ihn und pikse ihm währenddessen mit dem Finger in die Seite.
Sein Lachen ist warm und hoffnungsvoll, was mich sofort zum lächeln bringt. So ehrlich aufrichtig... wieso ist er in der Schule so ganz anders als jetzt?

Das Geheimnis der drei BücherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt