29 - Mama, wieso?

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Als ich die Tür aufschließe ist das erste, was ich denke: Nein.
Tja, das hat man davon, wenn man so spät nach Hause kommt.

Ich höre, wie Vincent die Tür hinter sich schließt und den Schlüssel im Schloss dreht. Einmal, zweimal, dann zieht er ihn scheinbar ab. Das Geräusch verstummt komplett und ich höre stattdessen Schritte hinter mir. Ein Klimpern, ein dumpfer Laut von Eisen auf Holz. Er hat den Schlüssel auf die Kommode gelegt. Immer noch stehe ich wie versteinert im Flur und starre die Notiz auf einer der Treppenstufen an. In meinem Kopf ist nichts als Leere, als ich sehe, dass dass daneben der Autoschlüssel liegt. Langsam setze ich mich in Bewegung, nehme beides von der Treppe und mache mich auf den Weg zum Auto. Ein Dreh rechts, durchs Wohnzimmer, dem Flur entlang und durch die einzig weiße Tür des Hauses. Ich höre, wie Vincent mir folgt, mache aber keine Anstalten, ihn wegzuschicken oder zu erklären, was los ist. Soll er doch mitkommen.

In der Garage ist es kalt und feucht, weshalb ich hoffe, sie hat diesmal wenigstens jemand nützlichen abgeschleppt. Ich schließe das Auto auf und setze mich auf den Fahrersitz, um im nächsten Moment in die Mittelkonsole sehen zu können. Da liegt Mamas Portemonnaie. Als ich nachsehe, merke ich jedoch, dass ihre Kreditkarte fehlt. Also doch kein richtiger Typ, denke ich biestig. Ich kann einfach nicht verstehen, wie sie das kann. Andererseits bleibe ich wohl mein Leben lang Jungfrau. Ich freue mich für Liz, aber Bindung ist nichts für mich. Es würde mir schon schwer genug fallen, Familie und Freunde zu verlieren, aber auch noch die Person, die ich leibe? Das würde ich nicht verkraften.

Ich nehme Mamas Portmonaie an mich und steige wieder aus. Vince sieht mich fragend an, obwohl er zu wissen scheint, dass er keine Antwort bekommen wird. Er fragt nicht, er ist nur da - und genau damit steht er mir gerade, wie selbstverständlich, enorm bei.
Nachdem ich die Tür wieder geschlossen habe, gehe ich zum Kofferraum und hole daraus meine Fahrradtaschen. Daraufhin schließe ich das Auto wieder komplett zu, reiße mich zusammen und sage Vincent, ich wäre bald wieder da. Seine Antwort fällt jedoch karg aus: "Nein."

Nach kurzer Diskussion, die ich eigentlich schon leid war bevor sie angefangen hat, einigen wir uns darauf, dass er das Rad meiner Mutter nimmt und wir fahren zusammen los. Erklärt habe ich ihm immer noch nichts genaueres. Wer nicht fragt ist selbst schuld, denke ich und fahre schlussendlich ohne noch einmal zurück zu sehen los.

Soll er doch sehen, wie er hinterher kommt, lautet mein lustloser Kommentar, als ich es kurz später hinter mir schnaufen höre. Bis eben war ich noch gut gelaunt. Jetzt laufen andauernd diese Bilder durch meinen Kopf, die sich einfach nicht abschütteln lassen, egal, wie schnell ich fahre. Papa wenn er lächelt. Papa, wenn er weint. Papa, der sich schreiend in eine Ecke drückt. Papa, der mich liebevoll ansieht, mit Tränen in den Augen. Papa, der sich verabschiedet. Papa, wie er im Flur verschwindet, wie er ins Auto steigt. Das Auto, dass ich nie wieder gesehen habe. Papa, wie er auf meiner Einschulungsfeier mit mir tanzen will, wie er mir die Hand sich verbäugend entgegen hält. Papa, Papa, Papa! Und sie sucht sich einfach einen Neuen! Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln und das einzige, was ich noch machen kann ist fahren. Immer weiter, immer schneller. Das ist meine Medizin. Auch wenn ich davon morgen Muskelkater haben werde.

Ich trete noch fester in die Pedale. Vermutlich hänge ich Vincent jetzt endgültig ab. Egal, der hat ein Handy! Ich sause über eine Kreuzung und strample immer weiter, doch dann komme ich quietschend und schlitternd zum Stillstand. Scheiße, hat er nicht!
Innerlich verfluche ich mich für meine Blödheit und drehe auf der Stelle um, um ihm entgegen zu fahren. Wieder gebe ich so viel Gas, wie möglich. Schon wenige Minuten später sehe ich Vincent, der sich ein paar Straßen weiter an eine Hauswand gelehnt hat. Sein Atem geht, wie meiner, stoßweise und er hält sich verzweifelt den Bauch, der bei jedem Atemzug vibriert. Schnell steige ich ab und stelle mein Fahrrad ab. Erst schnell, fast rennend, dann beinahe wie ein angefallenes Wiesel nähere ich mich ihm, überbrücke die Distanz zwischen uns. Als ich jedoch in seine Augen sehe, wird mir bewusst, dass er nicht nur verzweifelt versucht hat, mit mir mitzuhalten. In seinen Augen lodert etwas, dass ich zwar nicht direkt als Wut identifizieren kann, aber auf jeden Fall ein großer Teil davon ist.

Die Hand erhoben, um seinen Arm zu berühren, erstarre ich in der Bewegung. An seiner Mimik erkenne ich: Er ist mir gerade nicht freundlich gesinnt. Fuchsteufelswütend geht er einen Schritt auf mich zu. Ich erwarte schon, dass er mich anschreit, was eigentlich mit mir los wäre, aber das tut er nicht. Er starrt mich nur an und wartet wahrscheinlich darauf, dass ich mich entschuldige. Ich fühle mich gerade so elend, dass ich heulen könnte. Dennoch versuche ich, ihm aufrichtig in die Augen zu sehen.
Und dann passiert es: all seine Wut scheint sich in Luft aufzulösen. Plötzlich strahlen seine Augen eine solche Vertrautheit aus, dass es mich fast umhaut. Er hebt seine Arme und schließt sie um mich, seine Wange an meinem Kopf. Geschockt hole ich Luft und versuche, mich von ihm zu lösen, jedoch ohne Erfolg. Er drückt mich nur noch stärker an sich.

Minutenlang stehen wir so, während unsere Atmung sich wieder normalisiert. Dann, als hätte es klick gemacht, lege ich meine Arme auch um ihn. Mein Griff wird immer fester, aber Vincent tut nichts dagegen. In diesem Augenblick, irgendwo auf den Bürgersteigen meiner Heimatstadt, bin ich ihm dankbarer, als je zuvor und wahrscheinlich auch nie wieder danach. Nie hat mich jemand beschützt, vor allem nicht vor mir selbst. Denn so sehe ich das: Er hält mich davon ab, weiterzufahren und womöglich noch einen Unfall zu bauen und er hält mich davon ab, mich von ihm abzuwenden, zu verschließen, denn das würde ich wahrscheinlich mein ganzes Leben bereuen. Am liebsten hätte ich geweint - vor Freude und vor Trauer. Stattdessen stehe ich nur da und halte den Menschen fest, der mir im Moment am nächsten zu stehen scheint, obwohl ich ihn erst ein paar Wochen kenne. "Danke, Vincent," schluchze ich erstickt, doch auch jetzt fragt er nicht. Er fragt nicht, weshalb ich ich so verzweifelt bin oder wieso ich ihm so unendlich dankbar bin, er versteht mich blind und ich wünschte, das würde ich auch. Ich will auch für ihn da sein können, wie er gerade für mich.

Das Geheimnis der drei BücherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt