Am nächsten Morgen ist es still. Und grau. Gewitterwolken. Ruhe vor dem Sturm.
Leise stöhnend schiebe ich mich von meiner Matratze runter. Durch ein dumpfes Geräusch an meinem Ohr wird mir bewusst, was ich vergessen habe: meine Beine. Jetzt liege ich auf meinem Zimmerboden und muss mich hoch hiefen. Wieso ist das Leben an solchen Tagen nur so... anstrengend!
"Caro! Caro, steh auf!", ruft meine Mutter von unten.
Grummelnd spanne ich meine Muskeln an, komme jedoch nur wenige Zentimeter hoch bevor ich mich erneut der Schwerkraft ergebe.
Och man, muss das sein?"Caro, stehst du wohl auf! Es ist schon halb acht, verdammt!"
Wieso flucht sie denn jetzt schon?"Carilein! Komm doch bitte mal runter!"
Shit. Opa ist da. Und ich hab's vergessen. Ich bin sowas von dämlich: Es ist Samstag! Der Familientag, den ich seit Jahren liebe! Und ich habe ihn einfach vergessen. Ne schöne Enkelin bin ich. Vergesse einfach den einzigen Tag im Monat, der wirklich wichtig ist.
"Gleich da!", schreie ich wie von einer Hornisse (Ja, Hornisse, Taranteln stechen nähmlich nicht wirklich!) gestochen und stemme mich ruckartig vom Boden ab.
Anziehen, Haare kämmen, Zähne putzen... Schneller, schneller, schneller! Komm schon, Caro! Vergessen. Ich hab irgendwas vergessen. Verflucht, was hab ich vergessen?! Ich tänzle ununterbrochen auf der Stelle. Denk nach, denk nach!
Portmonee! Handy! Jacke! Jetzt aber schnell!
Ich renne die Treppe runter und stolpere dabei fast über meine eigenen Füße. Zum Glück steht mein Großvater bereits am Ende der Treppe und wartet auf mich, sodass ich mich die letzten Stufen einfach fallen lassen kann.
Sobald er mich aufgefangen hat, fängt er an, mich immer wieder zu umarmen, dann von sich weg zu halten, nur um gleich darauf meine Schultern wieder loszulassen und diese Prozedur zu wiederholen.
"Wie war Afrika?", nuschle ich nach der sechsten Runde an seine Schulter.
"So wie immer: Langweilig ohne mein Weibspack!" Er kneift mich in die Seite und hebt mich dann mit einem kräftigen Drücker hoch, um mich einmal im Kreis um sich zu schleudern. Daraufhin scheint er sich zu beruhigen, denn er drückt mich nur nochmal fest und lässt mich dann los. Wieso ist er eigentlich noch so fit, während Oma sich mit manchen Türen schon schwer tut?
Keine zwei Sekunden danach werde ich zur Küche gezogen und auf der Anrichte platziert. Wie eine übergroße Puppe. Schrecklich. Und bei jedem anderen wäre ich auch sauer gewesen... Nur bei Opa geht das eben nicht. Er ist einfach zu nett, um ihm lange böse zu sein. Natürlich streiten wir uns auch, das ist normal, aber das legt sich immer schnell wieder. Vielleicht tut uns die Distanz zu einander gar nicht so schlecht. So haben wir beide viel zu große Angst, uns das seltene Miteinander gegenseitig kaputt zu machen.
Anders ist das bei Mama: Ich habe immer genug Zeit, Dinge mit ihr auszudiskutieren. Es besteht keine Eile, daher kann ich mir die Meinungsverschiedenheit leisten."War klar, dass du bei ihm wieder kommst," mault Mama beleidigt, aber lächelnd.
"Möchtest du Speck zum Ei?"
Zustimmendes Brummen meinerseits.
"Heute nicht so gesprächig?", fragt Opa verwirrt.
Verneinendes Brummen. Seufzen.
Luftholen... Seufzen.
Fragendes Brummen.
Seufzen.
"Man Carolinchen, der Typ muss es dir angetan haben, hm?"
Jetzt bin ich vollends verwirrt. Was für ein Typ???
Meine Verwirrung scheint mir ins Gesicht geschrieben zu sein. Mit einem schallenden Lachen erwidert Opa: "Na der Junge, der meiner kleinen Caro so den Kopf verdreht hat, dass sie nicht mal mehr an den Familientag denkt. So sehr, dass sie nicht mit mir spricht, nachdem ich zwei Monate weg war. Und das auch noch nachdem der letzte Familientag ausgefallen ist."
Er sieht mich auffordernd an, zieht die Augenbrauen erwartungsvoll hoch und legt den Kopf ein klein wenig schief.
"Keine Ahnung, wovon du redest."
Klatsch. Arme Anrichte. Ständig muss sie seinen Kopf auffangen. Auf Dauer bestimmt nicht gut für sie... Hoffentlich bricht sie nicht irgendwann an der Stelle durch.
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Das Geheimnis der drei Bücher
RandomDrei Bücher, sieben Geheimnisse, Gedankenleserei und zu viele Wesen, die eigentlich nicht existieren sollten - und sie mittendrin: Carolin, ein eigentlich unauffälliges Mädchen, vermeidet näheren Kontakt mit den meisten anderen Schülern und versucht...