Kapitel 32 - Automatisch

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(Wincent's Sicht)

Draußen an der frischen Luft hatte ich endlich wieder das Gefühl atmen zu können. Mein Atem ging schneller als gewöhnlich und trotz der warmen Temperaturen war mir mit einem Mal extrem kalt. Meine Beine fingen an zu zittern, weswegen ich mich erstmal gegen das Gebäude lehnte.
Warum war ich bloß so verdammt gutgläubig?
Wie konnte ich mich schon wieder so in ihr täuschen?
Wie konnte ich glauben, dass das vergangene Wochenende irgendwas zwischen Charlet und mir ändern würde?
Vermutlich wird sie immer wieder in ihre alten Muster zurück fallen und allein der Gedanke daran machte mich wahnsinnig. Es könnte doch alles so einfach sein.

Ich lehnte immer noch an der Häuserwand, als ich hörte, wie sich die schwere Tür des Gebäudes öffnete. Verzweifelt schloss ich meine Augen. Ich brauchte nicht hinsehen um zu wissen wer mir gefolgt war. Trotzdem hoffte ich einen kurzen Augenblick lang, dass es nicht sie war.
,,Wincent ...'', sprach sie mich dann jedoch vorsichtig an.
,,Lass mich in Ruhe.'', erwiderte ich bloß während ich meine Augen weiterhin geschlossen hielt. Ich vernahm einen stechenden Schmerz an meinem geschlagenen Auge, weswegen ich mein Gesicht verzog.
,,Es tut mir so leid ...'', sprach sie weiter. Langsam öffnete ich meine Augen und erschrak leicht, da sie direkt vor mir stand und mich mit besorgter Miene ansah. Ihre Hand wanderte hoch zu meinem Gesicht, doch auf halben Weg stoppte ich sie mit meiner.
,,Ich sagte lass mich in Ruhe.'', wiederholte ich meine Worte mit Nachdruck.
,,Ich weiß wirklich nicht was in ihn gefahren ist ...'', redete sie einfach weiter, während sie mich genau musterte.
,,Du musst mir glauben, ich wusste nicht das er herkommt und aggressiv war er eigentlich auch noch nie ... ich weiß echt nicht ...'', sprach sie weiter, doch mit jedem ihrer Worte wurde mir noch übler.
,,Lass es gut sein Charlet.'', unterbrach ich sie. Ich ließ ihre Hand los und drehte mich um, um zu gehen.

Nach ein paar Metern blickte ich nochmal über meine Schulter. Charlet stand noch an der selben Stelle und rührte sich nicht. Sie hatte ihr Gesicht in ihren Handflächen vergraben und einen kurzen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken zu ihr zurück zu gehen. Ich verwarf ihn jedoch relativ schnell wieder, denn es hatte eh keinen Sinn.

(Charlet's Sicht)

Wincent wandte sich von mir ab und ging. Ich wollte was sagen, wollte ihm hinterher gehen, doch meine Stimme versagte und meine Beine schienen wie festgefroren. Da war etwas in seiner Stimme gewesen, was ich zuvor noch nie gehört hatte. Er war entäuscht, verletzt ... und das zurecht. Seine Worte brannten sich förmlich in meinen Kopf und hinderten mich gleichzeitig daran ihm zu folgen. Wie konnte ich nur so dumm sein und mich auf Henrys Seite stellen, wo er doch derjenige gewesen war, der Wincent aus dem Nichts heraus angegriffen hatte? Ich hatte es von der Bühne aus genau gesehen und trotzdem habe ich nicht reagiert. Vermutlich, weil ich wusste, wie Henry drauf sein konnte und das ich bezahlen musste wenn ich mich gegen ihn stellte. Er würde mich wieder in seinen Bann ziehen und ich würde nichts dagegen tun können. Es passierte jedes Mal wie automatisch.

Nach ein paar Minuten sah ich hoch in die Richtung in der Wincent zuvor verschwunden war. Die Straße war menschenleer, was für Berlin an einem Montag Nachmittag relativ ungewöhnlich war. Allerdings befanden wir uns ja auch in einer kleinen Seitenstraße, weswegen man jetzt auch keine Menschenmassen erwarten brauchte. Ich atmete noch einmal tief durch und ging zurück ins Gebäude um die Proben zu beenden.

Nach den Proben, bei denen ich mich kaum konzentrieren konnte, schrieb ich Henry um zu erfahren in welchem Hotel er sich befand. Er hatte sich ein Doppelzimmer im Holiday Inn gebucht. Natürlich musste es ein modernes 4-Sterne Hotel sein. Ich verdrehte bei seiner Wahl die Augen und machte mich vom Kulturhaus, in dem wir geprobt hatten, auf den Weg zum Hotel. Es war zu Fuß innerhalb von 10 Minuten zu erreichen, doch ich ließ mir extra lange Zeit und zögerte somit das Aufeinandertreffen zwischen mir und Henry noch ein wenig hinaus. Nach dem Vorfall vorhin hatte ich einfach absolut keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Einerseits hatte ich mich auf seine Seite gestellt, andererseits konnte ich diese nun nicht mehr vertreten und so hoffte ich, dass es kein Thema mehr zwischen uns sein würde. Nach weiteren 20 Minuten konnte ich es jedoch nicht länger hinaus zögern, zumal ich schon mehrere anzügliche Nachrichten von Henry erhalten hatte. In denen bat er mich, mich zu beeilen. So klopfte ich also kurze Zeit später an die Tür seines Hotelzimmers, die er mir daraufhin, nur in seiner Calvin Klein Boxershorts bekleidet, öffnete. Ich stutze einen Augenblick, betrat dann jedoch das Zimmer. Woher hatte er gewusst, dass ich davor stand und nicht der Zimmerservice oder so? Er würde ja wohl nicht jedem so die Tür öffnen, oder?

Schweigend setzte ich mich erstmal auf das kleine Sofa und betrachtete seinen perfekten Körper.
,,Gefällt dir was du siehst?'', fragte er verschmitzt, als er meine Blicke bemerkte. Natürlich tat es das und normalerweise hätte ich diesen Anblick auch genossen, jedoch ging mir der Übergriff auf Wincent nicht mehr aus dem Kopf, weswegen ich nur leicht nickte. Henry kam langsam auch mich zu und präsentierte mir seinen Oberkörper nun von nahem.
,,Das gehört alles dir, das weißt du oder?'', sagte er mit seiner verführerischesten Stimme.
Vor ein paar Wochen noch hätte er mich damit verführen können, doch heute hatte ich eher das Gefühl als müsste ich mich übergeben. Ich hatte das Gefühl in seiner Nähe nicht mehr ich selbst sein zu können und doch konnte ich mich ihm nicht entziehen.

Trotz meiner momentanen Abneigung ließ ich alles einfach mit mir geschehen. Er zog mich zu sich hoch und drückte mir einen innigen Kuss auf, den ich allerdings kaum erwiderte. In dem Moment klopfte es an der Tür, weswegen er sich von mir löste.
,,Entschuldige mich kurz, ich habe da noch etwas für uns bestellt.'', flüsterte er mir ins Ohr, während er halb nackt zur Tür ging und diese öffnete. Ich traute meinen Augen nicht, als er nur in seiner Boxershorts vor dem Zimmermädchen stand, welches einen Wagen mit einer Flasche Champanger und 2 Sektgläsern dabei hatte. Ich verspürte zwar keine Eifersucht, doch es war mir mehr als unangenehm, sowie auch dem Mädchen, welches sich mit hochrotem Kopf entschuldigte und schnell wieder ging.

,,Musste das sein?'', tadelte ich ihn, woraufhin er nur amüsiert lachte.
,,Sorry, war keine Absicht.'', sagte er bloß und kam dann wieder auf mich zu.
,,Wo waren wir stehen geblieben?'', flüsterte er, während er meinen Kopf in seine Hände nahm und mich wieder küsste. Er zog mich so dicht an sich ran, dass ich das Gefühl hatte zu ersticken, doch ich hielt es einfach aus. Es würde vorbei gehen, so wie jedes Mal und wehren konnte ich mich sowieso nicht, dafür hatte er mich viel zu sehr in seinen Bann.
Während ich mich meiner Kleidung entledigte schenkte Henry uns den Champanger ein.
Er reichte mir mein Glas mit den Worten: ,,Auf uns und weitere Jahre!'' Hatten wir heute etwa unseren Jahrestag? Ich versuchte mich an den Tag zurück zu erinnern, an dem wir zusammen gekommen waren und tatsächlich, es war der 13.Mai gewesen.

Verrückt, dass seitdem 2 Jahre vergangen waren, vorallem wenn man bedenkt, wie sich unsere Beziehung seitdem verändert hatte. Natürlich war er immer sehr dominat gewesen und das hatte mich auch nie wirklich gestört. Ich spürte trotzalledem das er mich liebte, doch seitdem ich nach Berlin gegangen war, war alles anders. Ich hatte mich verändert, auch wenn ich das erst nicht zulassen wollte. Mir gefiel diese Veränderung, doch sie bewirkte auch, dass ich meinen eigenen Freund auf Grund seiner Art und Weise nicht mehr in die Augen schauen konnte ohne Ekel zu verspüren.
Ja, ich ekelte mich vor meinem eigenen Freund und von daher wäre es für manche wahrscheinlich unbegreiflich, dass ich nun trotzdem mit ihm schlief. Während unserer Liebelei schaltete ich meinen Verstand komplett aus.
Ich funktionierte einfach nur automatisch.

- BETWEEN THE LINES - (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt