Kapitel 38 - 6 VHS Kassetten

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(Charlet’s Sicht)

Ich gab mir einen letzten Ruck und öffnete vorsichtig das schöne Holzkästchen. Zum Vorschein kamen 6 VHS Kassetten. Neugierig und dennoch verhalten besah ich mir die Kassetten genauer und versuchte das verblichene Ettiket zu lesen.

,,7.-10. SSW‘‘, stand in schnörkliger Schrift auf eine der Kassetten geschrieben.
SSW? War das nicht die Abkürzung für Schwangerschaftswoche? Noch bevor ich den Gedanken zuende gedacht hatte lies ich die Kassette zurück an ihren vorherigen Platz sinken. Konnte das wirklich sein? Hatte meine Mutter ihre Schwangerschaft mit mir dokumentiert? Das Kästchen war eindeutig bei ihren Sachen und die Schrift konnte ich auch unverkennbar als ihre identifizieren. Auf Grund des Notizbuches, welches ich von ihr besaß, kannte ich diese nur zu gut.

,,Charlet? Ist alles in Ordnung?‘‘, hörte ich Wincents Stimme, welche mich aus meinen Gedanken holte. Er wunderte sich vermutlich wo ich so lange blieb. Flüchtig schaute ich auf meine Handyuhr und tatsächlich war es schon fast halb 9. Ich war also schon eine gute halbe Stunde hier oben.

,,Ja alles gut.‘‘, antwortete ich ihm.
Schnell verschloss ich das Kästchen wieder, klemmte es mir unter den Arm, löschte das Licht und machte mich dann auf den Weg nach unten. Als ich die schmale Leiter wieder nach unten stieg sah ich im Augenwinkel wie meine Tante im Türrahmen stand. Kaum war ich unten angekommen drehte ich mich zu ihr um und schaute sie einfach nur an. Unser Blickkontakt sagte in dem Moment alles und doch hatte ich so viele Fragen, die ich einerseits stellen wollte und andererseits auch nicht. Stellen konnte ich letztendlich nur eine.
,,Ist es das was ich denke?‘‘, kam fast stumm über meine Lippen, während ich runter auf das Holzkästchen in meinem Arm deutete. Sophias Blick wurde mit einem mal ganz weich und liebevoll ehe sie sagte: ,,Schau es dir einfach mal an.‘‘

Eine Weile sah ich ihr weiterhin in die Augen ohne etwas zu sagen. Ich wusste nicht was und selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte es an der Situation nichts geändert. Auf der einen Seite war ich glücklich, dass ich nun endlich etwas wirklich greifbares von meiner Mutter hatte - Videoaufnahmen.

Ich würde hören wie sie spricht, würde sehen wie sie lacht und allgemein würde ich sie kennenlernen. Wenn auch nicht in der heutigen Zeit, aber ich würde herausfinden wie sie früher war. Nur wollte ich das? War ich mir dessen bewusst, was es mit mir machen würde? All die Jahre hatte ich in Selbstmitleid gebadet und mir für ihren Tod die Schuld gegeben. Selbst die Aufnahmen würden vermutlich nichts daran ändern und wären vielleicht zu schmerzhaft. Als ich mir dieser Gedanken bewusst wurde, wäre ich fast wieder umgekehrt und hätte die Kiste am liebsten zurück auf den Dachboden gebracht.

Ich war zudem so sehr in meinen Gedanken verloren, dass ich gar nicht bemerkte wie Wincent hinter mir aus dem Gästezimmer kam.

,,Was ist los? Wo ist die Gitarre?‘‘, fragte er und vor Schreck fiel mir das kostbare Kästchen meiner Mutter runter. Zu allem Unglück ging es auch noch auf, sodass die Kassetten herausfielen. Sofort ging ich auf die Knie um sie wieder aufzusammeln. Wincent tat es mir gleich, hielt dann aber inne als er eine Kassette genauer besah.

,,Charlet, was ist das?‘‘, fragte er mich sichtlich irritiert.
,,Ich weiß es nicht.‘‘, antwortete ich, was ja auch die Wahrheit war. Ich wusste tatsächlich nicht, was genau auf diesen Kassetten drauf war und außerdem fand ich das es ihn nicht wirklich etwas anging.

Ich nahm Wincent die letzte Kassette aus der Hand und packte sie zurück zu den Anderen in das Holzkästchen. Kaum stand ich wieder auf meinen Beinen war es Sophia die mich erneut aufhielt.

,,Weiß er etwa nichts davon?‘‘ Sie sprach in einem wirklich leisen Ton, aber dennoch bekam Wincent natürlich alles mit, weswegen er sofort nachfragte.
,,Was weiß ich nicht?‘‘
,,Nein…‘‘, antwortete ich nur und da ich merkte, dass meine Emotionen schon wieder überzukochen drohten, drückte ich mich schnell an den Beiden vorbei um in meinem Zimmer zu verschwinden.

Ich hatte gerade wirklich keine Lust mit den beiden oder auch nur mit Wincent alleine über meine Vergangenheit und über meine Mutter zu reden. Je länger ich darüber nachdachte, desto blöder fand ich meine Idee ihn mit hierher zu bringen. Ich schloss bewusst meine Zimmertür ab, damit auch ja niemand auf die Idee kommen würde einfach reinzukommen. Zu meiner Überraschung tat dies auch eine zeitlang keiner von beiden.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr fragte ich mich, was Wincent und Sophia gerade machten. Eigentlich hatte ich sicher damit gerechnet, dass einer von beiden versuchen würde mir nachzukommen.
Während eine weitere Stunde verstrich saß ich einfach nur auf meinem Bett, das Holzkästchen auf meinem Schoß gebettet und meine Gedanken waren so weit weg von hier wie schon lange nicht mehr. Ich dachte an meinen Vater und erinnerte mich daran, dass ich ihn schon länger nicht mehr angerufen hatte. Seitdem ich hier in Berlin war, war mein Kopf überall, nur nicht zuhause.

Im nächsten Augenblick fragte ich mich, ob mein Vater von den Kassetten wusste? Er muss davon gewusst haben, immerhin war er immer bei ihr gewesen, so hatte er es mir zumindest mal erzählt. Die Kassetten hatte er nie mit auch nur einem Wort erwähnt.

In meinem Kopf herrschte Chaos und ich schaffte es nicht meine Gedanken zu ordnen. Auf einmal holte mich ein sanftes Klopfen zurück in die Gegenwart und ich hörte eine vertraute Stimme meinen Namen sagen.

- BETWEEN THE LINES - (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt