(Wincent’s Sicht)
Das war ja mal komplett nach hinten losgegangen. Wie konnte ich auch so blöd sein und glauben sie würde sich mir anvertrauen? Im Grunde genommen war ich es ja selbst in Schuld, dass sie mich so forsch angegangen hatte, aber dennoch wollte ich ihr Verhalten nicht akzeptieren oder mich gar ihrer Laune fügen. Eine Flucht erschien mir daher als sehr sinnvoll. Nun stand ich hier im Pavillion, blickte auf den großen Eutiner See und schielte ab und zu rüber zu Charlet, die komplett verloren ein paar Meter von mir entfernt am Ufer stand. Ich ließ sie, trotz dessen das ich den Abstand gerade brauchte, die ganze Zeit über nicht aus den Augen. Sie schien nachzudenken und irgendwie beruhigte mich ihr Anblick. In einem Moment lächelte sie sogar, sodass ich ganz unbewusst ebenfalls lächeln musste.
Zwischen uns gab es mittlerweile eine Verbindung, die ich mit bloßen Worten wohl niemals erklären könnte.
Warum verstand sie denn nicht, dass ich ihr nur helfen will?
Das ich ihr zuhöre, wenn sie reden will?Das ich sie in den Arm nehme, wenn sie eine starke Schulter zum anlehnen braucht?
Es könnte so einfach sein.
Wie gesagt – könnte.Ich hatte mich so in meinen Gedanken verloren, dass ich erst jetzt bemerkte, dass sie zu mir rüber sah und sich kurz darauf in Bewegung setzte. Mein Blick folgte ihren Schritten, während ich mich mit dem Rücken zum See wandte. Wenige Minuten später stand sie vor mir und schaute mir, fast schon verzweifelt, direkt in die Augen. Ich hielt ihrem Blick stand und wartete darauf, dass sie den 1. Schritt machte. Ihren Blick senkte sie zum Boden.
War sie tatsächlich so unsicher, dass sie mir nichtmal mehr in die Augen schauen konnte? Hatte meine Ansage tatsächlich das in ihr ausgelöst?
Wo war ihre starke, selbstbewusste Persönlichkeit hin?Ich wollte ihr gerade aufmunternd meine Hand auf ihre Schulter legen, als sie vollkommen unerwartet begann zu sprechen.
,,Wincent …‘‘, war alles was sie raus brachte. Ihre Stimme klang nicht so gefasst wie sonst. Sie wirkte nahezu zerbrechlich und überhaupt nicht wie sie selbst.
Oder vielleicht war genau das ihr wahres Ich?
War sie hinter ihrer Mauer tatsächlich so klein und unsicher?
Ließ sie endlich ihre Mauer fallen?Mittlerweile fühlte ich mich fast schon genauso unfähig etwas zu sagen wie sie. So standen wir also beide in diesem Pavillion, unfähig uns in die Augen zu sehen und wartend auf die Worte des jeweils Anderen.
,,Wincent …‘‘, begann sie dann nochmal, diesmal mit gefasster Stimme. Ihre Augen suchten die Meinen, sodass die Verbindung zwischen uns nun deutlich spürbar war und nach außen hin auch sicherlich sichtbar.
,,Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dich vorhin ihm Cafe nicht so blöd anmachen. Irgendwie habe ich erst geredet anstatt vorher nachzudenken. Du hast bei mir einfach einen wunden Punkt getroffen … darauf war ich nicht vorbereitet. Das rechtfertigt mein Verhalten natürlich in keinster Weise, aber du musst mir glauben, dass es mir wirklich leid tut und –‘‘
,,Ist schon gut.‘‘, unterbrach ich ihren Redeschwall.Ich glaubte ihr jedes Wort. Diese Augen konnten nicht lügen. Ich verlor mich geradezu in ihnen, sodass ich gar nicht mitbekam was mein Körper in diesem Augenblick tat.
Mein Verstand war komplett ausgeschaltet und meine Umgebung hatte ich vollends ausgeblendet. In diesem Moment gab es nur sie und mich. Völlig automatisch hatte ich meine Hände an ihrer Hüfte plaziert und sie dadurch näher zu mir rangezogen. Dabei hatte sie wie selbstverständlich ihre Hände auf meine Brust gelegt. Sie konnte mit ziemlicher Sicherheit meinen Herzschlag spüren, welcher mindestens doppelt so schnell schlug als gewöhnlich. Unser Blickkontakt bestand dabei noch immer und ich begann in ihren braunen Augen regelrecht zu ertrinken. Gleichzeitig versuchte ich jedes noch so kleine Detail einzufangen. Ihre braunen seidigen Haare, die in der Sonne glänzten. Ihre reine Haut, welche absolut makellos aussah. In diesem Moment hätte ich schwören können nie etwas Schöneres gesehen zu haben.
Während wir weiterhin in diesem Moment verharrten und die Zeit stehen zu bleiben schien, bewegten wir uns mit einem Mal langsam aufeinander zu. Ihre Blicke huschten zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin und her. Ich tat es ihr gleich, sodass ich bemerkte, wie sie schüchtern lächelte. Passiert das hier gerade wirklich?Ohne weiter darüber nachzudenken, schloss ich meine Augen und mit ihnen auch die letzten Zentimeter zwischen uns. Unsere Lippen verschmolzen miteinander und für diesen Moment waren wir quasi eins.
Ein angenehmes Kribbeln durchfuhr mich, ehe mein Herz einen kurzen Satz machte und mein Verstand ruckartig wieder einsetzte. Augenblicklich war der zuvor perfekte Moment auch schon wieder vorbei. In mir breitete sich ein Gefühl aus, welches ich nicht erklären konnte. Irgendetwas passte hier überhaupt nicht. Irritiert öffnete ich meine Augen und löste mich aus unserem Kuss. Auch Charlet hatte ihre Augen geöffnet und sah mich nun schockiert an. Sie übte mit ihren Händen leichten Druck auf meiner Brust aus und schaffte so einen gewissen Abstand zwischen uns.,,Das war …‘‘
,,Merkwürdig.‘‘, beendete ich ihren Satz.
,,Ja.‘‘, bestätigte sie direkt.
Nervös fuhr ich mir mit meiner rechten Hand durch die Haare. Sowas merkwürdiges hatte ich tatsächlich noch nie erlebt. Ich hatte schon öfters Frauen geküsst und von Anfang an nichts dabei empfunden, aber diese Situation war mir neu. Charlet hatte so etwas ausgestrahlt, weswegen ich mich zu ihr hingezogen gefühlt hatte.
Der Kuss traf mich dann jedoch wie ein Schlag ins Gesicht. Das anfängliche Kribbeln, hatte sich in einen kalten Schauer umgewandelt, sodass jegliche Gefühle direkt erloschen waren. Kurz gesagt, hatte es sich angefühlt, also würde ich meine Schwester küssen. Zwar liebevoll, aber in keinster Weise intim.,,Ähm … sollten wir darüber reden?‘‘, fragte ich, da ich mit der Gesamtsituation ein wenig überfordert war.
,,Ich würde sagen, wir haben uns beide von unseren Emotionen leiten lassen, aber im Grunde genommen hat das nichts zu bedeuten und sollte auch nicht zwischen uns stehen. Es war nur ein Kuss … vergessen wir das, ok?‘‘, erwiderte Charlet hastig während sie weiterhin überall hinsah, außer zu mir.
,,Okay.‘‘, stimmte ich ihr zu.
,,Dann lass uns am besten mal wieder nach Hause gehen, es ist schon spät geworden.‘‘, fügte ich noch, mit einem Blick auf meine Uhr, hinzu.Die Zeiger standen erst auf 16 Uhr und trotzdem war uns beiden klar, dass wir hier nicht bleiben wollten. Schweigend liefen wir zu mir nach Hause. Die Stille war sowohl angenehm, als auch unangenehm gleichzeitig. Kurz bevor wir vor meiner Haustür ankam hielt Charlet mich am Arm zurück.
,,Warte mal, also irgendwie ist diese ganze Stimmung zwischen uns jetzt total gekippt … das war sicherlich nicht Sinn dieses Kurztrips. Ich muss das jetzt einfach nochmal ansprechen, sonst drehe ich durch. Keine Ahnung, wie es dir geht, aber ich für meinen Teil habe bei diesem Kuss gerade gar nichts empfunden … worüber ich sogar irgendwie froh bin, da das heißt, dass wir zusammen auf Tour gehen können, ohne Angst vor aufkommenden Gefühlen haben zu müssen. Nicht das ich diese Angst gehabt hätte, aber das hätte es ja doch irgendwie nur unnötig kompliziert gemacht und so kann ich mir jetzt sicher sein, dass da nichts ist … oder?‘‘Ihre Worte hallten in meinem Kopf wieder und ergaben kaum einen Sinn. Die einzelnen Wörter setzten sich erst nach und nach zu zusammenhängenden Sätzen zusammen. Als ich diese nun verstanden hatte spürte ich eine ungemeine Erleichterung aufkommen. Sie hatte recht, das würde einfach alles leichter machen. Wir mussten uns beide keine Gedanken über Gefühle machen die der Andere vielleicht hegte. Ein ehrliches Lächeln erschien auf meinem Gesicht und mit einem Mal war da wieder diese unbeschwerte Stimmung.
Charlet fing sogar an zu lachen, woraufhin ich mit einstimmte.
So unangenehm der Kuss auch gewesen war, so hatte er doch einen Verbindung zwischen uns erschaffen, die stärker schien als jede Liebesbeziehung.
Die Erkenntnis, dass man nicht mit jedem zusammen passt und das Liebe einem nicht immer im Wege steht.
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- BETWEEN THE LINES - (pausiert)
Fiksi PenggemarDie 23 Jährige Charlet singt für ihr Leben gern und das auch noch ziemlich gut. Sie lebt außerdem in einer ziemlich ungewöhnlichen Wg mit ihrem Vater zusammen. Die Beiden haben einen ziemlich guten Draht zueinander, weswegen er sie unterstützt wo er...