Kapitel 41 - Helena

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(Charlet’s Sicht)

Eine Weile lang starrte ich dieses verdammte Holzkästchen meiner Mutter wieder einmal nur an. Wincent wartete geduldig auf meine Entscheidung und ich schätzte es sehr, dass er mich zu nichts drängte, sondern einfach nur da war um mich in die richtige Richtung zu lenken. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und öffnete mit zitternden Fingern das Kästchen um die 1. Kassette rauszunehmen. Ich hatte vorher gar nicht bemerkt, wie sehr mein Körper unter dieser Last litt, sodass ich innerlich erschrak und mir schwor meine Fassade nach diesem Abend wieder aufzubauen. Keiner sollte jemals merken wie schwach ich gerade wirklich war. In den letzten Tagen war irgendwie alles auf einmal zustande gekommen und das überforderte mich maßlos. Es schien so, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meine Emotionen und dies durfte ich unter keinen Umständen zulassen. 

,,Soll ich?‘‘, holte Wincent mich aus meinen Gedanken und deutet auf die Kassette, welche ich immer noch in meiner zitternden Hand, sogut es eben ging, festhielt. Ich schaute zu ihm hoch und in seinen Augen erkannte ich pure Zuneigung und Hingabe für die aktuelle Situation. Dieser Blick kochte mich regelrecht weich, sodass ich meine Fassade in die hinterste Ecke schob und mir erlaubte heute schwach sein zu dürfen. Ich nickte leicht und hielt ihm die Kassette hin. Er nahm sie, stand auf und ging zum kleinen Fernsehschränkchen, wo tatsächlich noch ein alter VHS-Player stand.

Nachdem er den Fernsehr angemacht und den VHS-Player gestartet hatte setzte er sich zurück zu mir aufs Bett und drückte auf der alten Fernbedienung auf ‘Play‘.

Ein leichtes Rauschen erschien auf dem Bildschirm, ehe sich ein klares Bild zeigte. Meine Mutter lächelte in die Kamera und wirkte total nervös, aber überglücklich. Sie nahm gerade noch ein paar Einstellungen vor, ehe sie zurücktrat und sich passend positionierte. 
,,Läuft die Kamera?‘‘, hörte ich nun zum ersten Mal die Stimme meiner Mutter sagen, während sie auf etwas oder jemanden hinter der Kamera sah. Ich hielt kurz den Atem an und in mir drin zog sich alles zusammen. Wincent bemerkte dies recht schnell und legte beruhigend seine starken Arme um ich. 
,,Ich bin da und wir können abbrechen, wenn es dir zu viel wird, ok?‘‘

Seine Worte beruhigten mich noch mehr und ich beschloss mich einfach auf diese Situation einzulassen. 
,,Kamera läuft.‘‘, hörte ich die junge Stimme meines Vaters aus dem Hintergrund. 
,,Oke, oh mein Gott ich bin so aufgeregt.‘‘, sprach meine Mutter weiter und hielt sich dann die Hände vor ihr wunderschönes Gesicht. Sie war wirklich bildhübsch. Von ihren braunen langen Haaren fielen ihr einzelne Strähnen ins Gesicht, welche sie sich jedoch direkt zurück strich. 
,,Jetzt sag schon weswegen ich die Kamera aufstellen sollte.‘‘, drängte mein Vater ungeduldig aus dem Hintergrund. Wieder schaute meine Mutter nervös in die Kamera und schickte ein stummes Gebet gen Himmel. 
,,Ich hoffe du bist diesmal bereit dafür…‘‘, begann sie vorsichtig. 
,,Wofür? Helena …was ist los?‘‘, sagte mein Vater und trat aus dem Hintergrund ins Bild. Er ließ sich von der laufenden Kamera nicht stören, sondern griff einfach nur nach den zierlichen Händen meiner Mutter und sah sie an, als wäre sie sein Mittelpunkt auf dieser Welt. Diese Liebe in ihrem Blick brachte mein Herz fast zum schmelzen und als ich zur Seite sah, merkte ich wie auch Wincent seinen Blick nicht vom Fernsehbildschirm abwenden konnte. 
,,Na ja … ich …‘‘, begann meine Mutter zögerlich, weswegen ich meinen Blick wieder auf den Bildschirm richtete. Ich hatte schon so eine leise Vorahnung was jetzt kommen würde, da dies die erste Kassette war und meine Mutter schlank wie eh und je war. 
,,Ich bin schwanger.‘‘, beendete sie dann ihren zuvor angefangenen Satz leise, aber laut genug, dass man es hören konnte. 

Einen kurzen Moment lang hatte ich das Gefühl mein Vater wäre erstarrt, doch im nächsten Augenblick breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Überschwänglich nahm er meine Mutter in die Arme und hob sie in die Luft während er sich im Kreis drehte. Ich bemerkte gar nicht, dass mir Tränen in die Augen schossen, was Wincent natürlich nicht entging. 
,,Hey …nicht weinen, es ist doch alles gut.‘‘, versuchte er mich zu beruhigen. Doch je mehr er das versuchte, desto mehr Tränen fanden den Weg über meine Wangen. 
,,Es … es ist alles gut … nur …‘‘, begann ich, doch konnte nicht wirklich in Worte fassen, was ich gerade fühlte. Einerseits war es so schön zu sehen, wie sehr meine Eltern sich auf mich gefreut hatten und andererseits tat es einfach nur weh die Erinnerungen aufleben zu lassen, da ich meine Mutter ja nie kennengelernt hatte. Alles was ich hatte waren ein paar Bilder und jetzt diese Kassetten. Ich kannte sie nur aus den wenigen Erzählungen meines Vaters oder meiner Tante, aber ihre Stimme und ihr Lachen zu hören, war so viel schöner als ich es mir jemals vorgestellt hätte.

,,Du musst nicht reden. Es ist okay.‘‘, beruhigte Wincent mich weiter, während er mich immer noch in seinen Armen hielt. Das Video endete nach einer halben Stunde, nachdem meine Mutter von ihrer 10. Schwangerschaftswoche berichtet hatte. 
,,Willst du noch eine sehen?‘‘, fragte Wincent vorsichtig. 
,,Nein … ich denke das reicht für heute.‘‘, erwiderte ich, schenkte ihm jedoch ein Lächeln, damit er nicht glaubt er hätte diese Frage nicht stellen dürfen. 
,,Okay … dann werde ich mal rüber gehen … es ist schon ziemlich spät.‘‘

Ich nickte nur, doch irgendwie wollte ich ihn nicht los lassen … noch nicht. Er schenkte mir gerade so viel Geborgenheit und ich fühlte mich einfach nur rundum wohl. 
,,Kannst du … noch ein bisschen bleiben?‘‘, fragte ich ihn, ehe ich meine Worte überdenken konnte.

- BETWEEN THE LINES - (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt