Elia verschränkte die Hände zu einem Steigbügel, in den seine kleine Schwester ihren Fuß stellen konnte. Sie packte ihn an den Schultern und zog geschickt das andere Bein nach. Mit beiden Händen auf seinem Kopf kletterte sie an ihm hoch, setzte ihre Füße auf seine Schultern und richtete sich langsam mit zur Seite gestreckten Armen auf. Sie hatten das schon gefühlte hundert Mal gemacht. Meist zu nichts anderem, als zur Belustigung des Theaterpublikums. Diesmal erfüllte die akrobatische Übung den rein praktischen Zweck einen Ball zurückzuholen, den Cassandra beim Jonglieren mehr oder weniger unabsichtlich auf die Pendeluhr geschossen hatte. Er hatte sich dort oben zwischen den geschnitzten Schnörkeln verfangen.
Elia pflanzte sich mit beiden Beinen fest in den Boden und sicherte sich mit den Händen am hölzernen Uhrkasten ab.
„Hast du ihn?", fragte er, während er spürte, wie Cassandra ihr Gewicht nach vorne verlagerte.
„Gleich." Sie streckte ihre Hand nach dem Ball aus. "Aber da ist noch was?"
"Was?", presste er hervor. Gut möglich, dass im Lauf der Zeit so einiges dort oben gelandet war.
„Hast du gewusst, dass da eine Öffnung hinter der Uhr ist?" Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.
„Unsinn! Was für eine Öffnung?" Er konnte sich das nur schwer vorstellen. „Komm' runter!" Cassandra war mit ihren zwölf Jahren drei Jahre jünger und entsprechend kleiner und leichter als er, ein richtiges Fliegengewicht, allerdings wurde es mit der Zeit trotzdem anstrengend, sie auf den Schultern zu balancieren. Cassandra ging etwas in die Knie und sprang dann leichtfüßig direkt auf den Holzboden des Salons. Die Landung klang weniger elegant, aber alte Bodenbretter knarrten eben.
"Lass uns hinter die Uhr schauen, ich will wissen, was dort ist," drängte sie. Elia konnte nicht abstreiten, dass es ihn ebenfalls interessierte. Zu zweit stemmten sie sich gegen die Pendeluhr, das Holz ächzte zuerst nur, doch schließlich ließ sich das Möbelstück zur Seite schieben und gab den Blick auf den dunklen Spalt frei, der dahinter lag. Ein feuchtkalter, abgestandener Geruch schlug ihnen entgegen. Elia schnappte sich die Öllampe vom Tisch und leuchtete damit in die Öffnung hinein. Es sah aus wie ein schmaler Gang. Vielleicht ein Verbindungsgang oder so etwas. Aber warum hatte man die Uhr davor geschoben? Während er vor sich hin sinnierte, war seine Schwester bereits durch den Spalt geschlüpft.
"Warte doch ...", rief er ihr nach, und folgte ihr. Die Eltern waren bestimmt noch länger in der Theaterprobe, da konnten sie später entscheiden, ob sie überhaupt etwas von ihrer Entdeckung erzählen wollten. Kleine Geheimnisse hier und da konnten nicht schaden, und wie sollte es denn ein Geheimgang bleiben, wenn alle davon wussten.
Dieser Gang hier war jedenfalls sehr schmal. Sie beide konnten sich leicht hindurch zwängen, aber ein Erwachsener hätte bestimmt Schwierigkeiten gehabt. Elia betrachtete die Wände im Schein der Lampe. Die Eine war eine einfache Ziegelmauer, die andere verputzt, so wie eine Hausmauer. Vielleicht war der Gang gar nicht zum Durchgehen gedacht, sondern durch Zufall entstanden, als man das Teatro Dionisio an die umliegenden Häuser dran gebaut hatte. Heute befanden sich dort die Wohnungen von Schauspielern und Theaterbediensteten, sowie einige Werkstätten.
Je weiter sie sich vorantasteten, desto dunkler wurde es. Gut, dass sie die Lampe dabei hatten, aber Cassandra schien es gar nichts auszumachen in der Finsternis voraus zu laufen. Der Gang führte um mehrere Ecken und irgendwann hatte Elia seine Schwester aus den Augen verloren. Aber sie konnte ja nur in eine Richtung gelaufen sein. Bestimmt landeten sie recht bald in einer Sackgasse. Ihm fiel auf, dass die Flamme im Glaskolben unvermittelt zuckte und rußte. Er sah seinen eigenen Schatten an den Wänden tanzen. Und dann, nur für einen kurzen Augenblick, sah er noch einen anderen Schatten, der sich ihm näherte. Die Flamme zuckte und wand sich noch einmal, dann ging sie aus.
"Cassandra, was soll das?", zischte er. Doch sie antwortete ihm nicht. Wollte sie ihm einen Schrecken einjagen? Er streckte einen Arm aus, um nach ihr zu greifen, aber er spürte nur die feuchtkalte Luft und die Ziegelmauer. Einen Moment lang lauschte er in die Dunkelheit. Vergeblich. Nicht einmal Cassandras Schritte, dabei konnte sie sich nicht viel weiter als eine Armlänge von ihm entfernt befinden. Er tastete sich weiter voran. Die Enge bedrückte ihn. Seine Schultern streiften rechts und links an den Mauern, sodass er leicht schräg weitergehen musste.
"Du hast Angst", vernahm er plötzlich die Stimme seiner Schwester. "Gar nicht wahr", gab er verärgert zurück. Seine eigene Stimme klang dumpf in dem engen Raum, so als ob die schwere, feuchte Luft sich um sie legte und sie niederdrückte. Augenblicklich wurde ihm klar, dass er Cassandras Stimme nicht wirklich gehört hatte. Nicht mit seinen Ohren. Und doch war sie da gewesen. So als hätte sie in ihm drinnen gesprochen. Aber das konnte nicht sein. Seine Fantasie trieb in der Dunkelheit ihren Spaß mit ihm.
"Cassandra!", rief er abermals und seine Stimme kam ihm immer noch fremd und zusammengedrückt vor.
"Angsthase!", rief es in seinem Kopf.
Unsinn, dachte er und zwang sich weiterzugehen. Er bildete sich in der Dunkelheit irgendetwas ein und machte sich selbst verrückt.
Darauf erntete er ein helles Lachen. Verdammt, wo kam das her? Das war nicht Cassandra, oder etwa doch? Zuerst klang es nach ihr, aber dann mischte sich noch etwas hinzu. Es hallte in ihm, als wäre sein Schädel eine leere Schale, die der Stimme als Resonanzraum diente. Da war keine Angst mehr, keine Dunkelheit, seine Gedanken waren wie ausgelöscht. Da war nur diese Stimme.
Und dann spürte er etwas Kühles, Hartes an seiner Wange und seinen Handflächen kratzen. Der Fußboden. Nackte Ziegel. Er spuckte den Staub und den Sand aus, den er auf einmal auf der Zunge und zwischen den Zähnen spürte und versuchte sich auszustrecken. Doch seine Knie stießen gegen Wände, ebenso wie sein Rücken und sein Kopf. Verdammt. Waren hier überall Wände? Panisch ruderte er mit den Armen, schürfte sich dabei Ellbogen und Fingerknöchel auf.
Nach einigen langen Augenblicken war ihm wieder klar, in welche Richtung der Gang verlief. Es gelang ihm sich halb, sich aufzurappeln und einmal tief durchzuatmen.
"Cassandra!", rief er keuchend. Da stieß etwas unsanft in seine Seite. Er fuhr zusammen. Das war Cassandras Schuh und sie lachte. Ihm lief es kalt über den Rücken. Dann erst bemerkte er, dass dieses Lachen nicht in seinem Kopf war. Es war echt. Es war das helle Mädchenlachen seiner kleinen Schwester.
"Verflucht", schimpfte er, doch im Grunde war er erleichtert. "Musst du mich so erschrecken?"
"Was hast du?", fragte sie ihn verwundert. „Warum hockst du hier auf dem Boden?"
"Bin hingefallen," brummte er und machte Anstalten wieder aufzustehen, doch als er sich auf den Ziegelboden stützte, durchfuhr ein scharfer Schmerz seine Hand und er gab ein Zischen von sich.
"Was ist?"
"Ich weiß nicht ...." Er betastete seine Hand und spürte, dass etwas in seiner Handfläche steckte. Es war hart und hatte scharfe Kanten. "Ich glaube, ich hab mich geschnitten. Die Lampe muss beim Hinfallen zerbrochen sein."
Sie liefen durch den Gang zurück in die Wohnung. Die Eltern waren noch immer in der Probe und die Beiden beschlossen die Sache für sich zu behalten und sich lediglich eine Geschichte auszudenken, die die kaputte Lampe erklärte. Sie schoben die Uhr zurück vor den Spalt. Sie hatten anscheinend mehr Zeit in dem Gang verbracht, als zunächst gedacht. Er hatte auch keine Lust mit seiner Schwester zu besprechen, was er erlebt hatte. Bestimmt war es gar nichts gewesen. Vermutlich war er wirklich nur ein Angsthase und hatte sich alles Mögliche eingebildet. Wäre da nicht der Schnitt in seiner Hand und die aufgeschürften Knöchel, die sich äußerst real anfühlten.
Herzlich willkommen zu meiner "neuen" Geschichte. Ich habe diesen Roman im Laufe des Jahres 2017 geschrieben, nachdem ich mir in Venedig so viele Sagenbücher gekauft hatte (Sagenbücher sind 'leider' mein Steckenpferd ;-) , dass ich mir gesagt habe: "Jetzt musst du das aber für irgendwas verwenden. Nicht, dass du umsonst eine halbe Bibliothek mit heim geschleppt hast." Und herausgekommen ist dieser historische Vampirroman.
Mittlerweile war er bei einigen Testlesern und ich würde mich natürlich über weiteres Feedback von euch freuen. Updates kommen voraussichtlich jeden zweiten Tag. Da die Geschichte im Grunde geschrieben ist, kann ich sie auch schneller hochladen. Ich wünsche euch gute Unterhaltung beim Lesen.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...