Als sie sich endlich auf die samtgepolsterte Bank in der Gondelkabine sinken ließ, hatte Milica mehr Zeit verloren als geplant. Noch lagen die Kanäle bleischwarz vor ihr, aber bald schon würde ein heller Streifen am Horizont erscheinen und den Himmel gnadenlos mit hellem Blaugrau überziehen. Vermutlich konnte sie den Rückweg in die Stadt erst am nächsten Abend antreten. Die Kanäle, durch die sie der erste Teil ihres Weges führte, waren so eng, dass die Häuser das Mondlicht abschirmten. Wenig später bogen sie in einen breiteren Kanal, in dem sich hie und da ein paar Lichter spiegelten, doch es war eine wolkenverhangene Nacht und die Laternen, die Ufer und Gassen beleuchteten, schienen dagegen nicht viel ausrichten zu können.
Die Gondel glitt am Jesuitenkloster vorbei, unter einer Brücke hindurch und schließlich erstreckte sich vor ihr die Lagune. Hier hatte Julien vor einigen Tagen die Musik gehört, die ihn so fasziniert und verstört hatte. Milica richtete sich ein wenig auf und schloss die Augen, um in die Dunkelheit zu lauschen. Doch sie hörte nur das Plätschern, das entstand, wenn der Gondoliere den Riemen ins Wasser tauchte.
Sie kroch aus der Kabine und stellte sich aufrecht an Deck der Gondel hin, sodass sie das Wasser überblicken konnte. Es lag dunkel vor ihr und alles, was es von sich gab, war der altbekannte Geruch nach Algen und abgestandenem Salzwasser. Wenn sie an die Geschichte von der ungeschriebenen Sinfonie und an das Sagenbuch dachte, kam sie immer mehr zu dem Schluss, dass hinter diesen alten Geschichten mehr steckte, als sie zunächst angenommen hatte. Einige Erzählungen waren bestimmt völliger Unsinn oder eben Dichtung, aber oft wurden Tatsachen und Erscheinungen beschrieben, die es wirklich gab, oder sich zumindest irgendwann einmal so ähnlich ereignet hatten. Sie hatte das bemerkt, als sie zum ersten Mal den Sirenen begegnet war, die sich tatsächlich hier in der Lagune herumtrieben. Und auch bei Juliens Geschichte von der schwebenden Musik schien es sich um etwas Reales zu handeln. Töne und leuchtende Notenzeilen über dem Wasser. Er hatte es gesehen und Juliens Erzählung zufolge, hatten auch Elia und Cassandra es genauso erlebt. Ob die Hintergrundgeschichte über den vergessenen Komponisten stimmte, war eine andere Sache, abgesehen davon dass er existiert hatte, sie war ihm ja vor vielen Jahren persönlich begegnet.
Fest stand auch, dass Dareios mehr wusste, als er zugab. Weshalb war er sonst so ausgerastet, als Elia in dem Buch geblättert hatte. Irgendwo gab es einen Zusammenhang. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und presste die Lippen zusammen. Warum hatte Dareios nichts gesagt? Er musste geahnt haben, dass hier eine Gefahr lauerte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er solche Dinge nicht aus Boshaftigkeit verschwieg, sondern um sie und Julien zu schützen. Vor Dingen von denen sie nichts ahnten. Weil er der Meinung war, sie seien dem nicht gewachsen. Immerhin hatte er sie nicht daran gehindert zu Lajos und Ersilia zu fahren. Das bedeutete, dass selbst er die Hilfe der Älteren gebrauchen konnte, und sie wusste nicht, ob das ein Gedanke war, der sie ruhiger stimmen konnte. Doch sie würde nun erfahren, was es zu erfahren gab. Auch wenn es ihr jedes Mal einiges an Respekt abverlangte, den älteren Vampiren entgegenzutreten. Unter deren Augen fühlte sie sich beobachtet und hatte das Gefühl, jeder noch so kleine Fehler ihrerseits landete in einem geheimen Sündenregister, und zögerte den Tag, an dem man sie für voll nehmen würde, um weitere hundert Jahre hinaus.
Während sie auf dem Boot stand und die Lagune überblickte, riss etwas sie aus ihren Gedanken. Sie blieb ruhig stehen und lauschte in die Nacht. Da war es wieder. Wie ein leiser anhaltender Geigenton. Er schwoll an, riss wieder ab und erklang einige Augenblicke darauf erneut. Diesmal war es ein höherer Ton. Und dann hörte sie eine Stimme. Ein Lachen. Leise und irgendwo in der Ferne. Sie konnte die Stimme nicht zuordnen, doch sie kam ihr bekannt vor. Darauf folgte ein etwas satterer Ton, es klang wie ein aus vielen Stimmen zusammengesetzter Akkord. Dann war es wieder still bis auf das leise Plätschern des Wassers gegen den Rumpf der Gondel.
Auf halbem Weg zu der Insel auf der Lajos und Ersilia wohnten, ließ sie ihre Hand in die Rocktasche gleiten, zog die gut verkorkte Glasflasche hervor und schleuderte sie in hohem Bogen von sich. Mit einem Platschen tauchte sie kurz unter und tanzte dann auf der Wasseroberfläche, während die Gondel sich immer weiter entfernte. Die Flasche war beinahe aus Milicas Sichtfeld verschwunden, als sie glaubte zu bemerken, wie sie flugs und unversehens unters Wasser gezogen wurde.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...