Alles sollte noch heute Nacht geschehen. Weiteren Aufschub konnten wir uns nicht leisten. Wir konnten uns nicht einmal sicher sein, ob es nicht ohnehin schon viel zu spät war. Während die Anderen die Gondel bereit machten und letzte Vorbereitungen trafen, war mir noch eine Runde in der Nachbarschaft erlaubt, um mich neuerlich stärken zu können. Ich war noch nicht völlig wiederhergestellt und wie ich bereits früher festgestellt hatte, kostete der Umgang mit diesen sogenannten Ombrei mehr Energie als alles andere. In meinen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt erreichte ich den Kanal, an dessen Ufer die anderen Vampire auf mich warteten. Als ich den Blick hob, sah ich Annalisa, Elia und Flavio hinter den Fenstern stehen und zu mir hinunter blicken. Abermals nahm ich das Amulett ab und reichte es Milica zur Aufbewahrung.
Nun bestieg ich die Gondel, stellte mich auf den Heckschnabel, legte den Riemen in die Gabel und begann das Gefährt aus der Einfahrt in den nur wenige Meter vom Haus entfernten größeren Kanal hinaus zu rudern. Obwohl wir einen Gondoliere beschäftigten, hatte ich immer wieder geübt, da ich es nützlich gefunden hatte, so ein Boot auch selbst steuern zu können. Hätte ich denn ahnen können, dass es mir gerade in einer Situation wie dieser helfen würde? Vermutlich folgten mir die Blicke der anderen beim Hinausfahren, seit ich den Stein abgenommen hatte, nahm ich sie kaum noch wahr. Ich versuchte, mich vollständig auf das Wasser und das Boot zu konzentrieren und, mich nicht von all den Eindrücken ablenken zu lassen, die nun auf mich einstürzten. Obwohl ich das Ziel nicht kannte, wusste ich, wohin ich musste. Sie gab mir den Weg vor und ich folgte.
Es war eigenartig durch die Wasserstraßen der Stadt zu gleiten und all das wahrzunehmen, was dem Auge sonst verborgen blieb. Ich sah die Menschen wie Schatten an den Ufern der Kanäle entlanghuschen und ich wusste, dass einige von ihnen keine Menschen waren. Sie kamen mir eher vor, wie Rosina und einige waren etwas ganz anderes. Manche bemerkten mein Kommen, denn sie wandten sich mir zu und starrten mich an. Mir war, als folgten mir die in Stein gemeißelten Gesichter mancher Statuen mit ihren Augen. Staunend steuerte ich die Gondel immer weiter, und während ich mich der Lagune näherte, vernahm ich die wohlbekannte Musik. Ich erkannte die Linien der Notenzeilen ganz deutlich auf der glitzernden, schwarzen Wasseroberfläche. Irgendwann würde ich zurückkommen und alles aufschreiben. Ich konnte es nicht erwarten, ein Orchester diese Partitur einstudieren zu sehen. Selbst auf dem mit Wolken verhangenen Himmel konnte ich nun Muster und Strukturen erkennen, doch sie sahen nicht nach Noten aus. Eher wie eine Landkarte. Was es hier doch für kuriose Dinge gab. Ich ließ mich an den Fondamente Nove entlang leiten, vorbei am weitläufigen Gelände des Arsenals. Immer wieder erblickte ich unbewohnte Inseln, die ich noch nie zuvor aus der Nähe gesehen hatte. Nun musste ich nicht mehr viel tun, um voranzukommen. Vielleicht war es die Strömung, die mir zur Hilfe kam. Ich versuchte mich auf die leiser werdende Musik zu konzentrieren, denn immer wieder drangen verstörende Gedanken und Rufe zu mir durch und mit Grauen wurde mir klar, dass es sich dabei um die Stimmen von Ertrunkenen handeln musste. Manche der Rufe kamen auch von den Inseln, an denen ich vorüberfuhr. Hatte man nicht während der Pestzeiten, die Kranken zum Sterben dorthin gebracht? Eine von Mauern umschlossene Insel erkannte ich als das Fort Sant'Andrea. Auch hier hörte ich Hilferufe und Schmerzensschreie und wusste, dass diese von ehemaligen Insassen der hier befindlichen Gefängnisse stammen mussten.
Die Musik war kaum noch zu hören, als Sant'Andrea hinter mir lag und der am Lido stehende Campanile von San Nicolò an mir vorbeizog. Meine Gondel trieb nun direkt auf das offene Meer zu. Die lange Ruderstange hielt ich noch in der Hand, tat aber kaum etwas, um mein Gefährt voranzubringen. Es schien sich seit einiger Zeit ganz ohne mein Zutun verselbständigt zu haben. Ich blickte zurück, die Lichter der Stadt wurden immer kleiner und schwächer und der Turm von San Nicolò verschwamm weit hinter mir mit der Dunkelheit. Das sollte mir Sorgen machen, das wusste ich. Ich sollte etwas unternehmen. Je weiter wir uns von den Inseln der Lagune auf das offene Meer zubewegte, desto eher schwanden meine Möglichkeiten, mich in Sicherheit zu bringen, ich war ausgeliefert. Und doch ließ ich alles geschehen, als wäre ich lediglich ein unbeteiligter Zuschauer.
Die Lichter des Lido waren nur noch schwach im Hintergrund zu erkennen, als der Ruderriemen in meiner Hand mit einem Mal ungewöhnlich schwer wurde. Ich versuchte, ihn aus dem Wasser zu ziehen, doch da war ein Widerstand. Etwas oder jemand schien daran zu hängen. Ich hielt ihn mit beiden Händen fest und rüttelte daran. Gleichzeitig brachte diese Bewegung die Gondel derart zum Schaukeln, dass ich nur die Wahl hatte loszulassen, oder selbst ins Wasser zu fallen. Die lange Stange rutschte an meinen Händen entlang, hinab ins dunkle Wasser. Ein Holzstück, das hätte schwimmen müssen. Jemand befand sich direkt unter mir.
„Zeig dich und lass die dummen Spiele!", schrie ich in die Nacht, doch meine Stimme wurde vom Wind fortgetragen. Ich wusste, es war zwecklos, zu schreien. Schließlich befand sie sich unter Wasser. Ich musste in Gedanken mit ihr sprechen, doch stand ich immer noch im Bann so vieler Eindrücke, dass es mir schwerfiel, die verrückte Sirene zu finden. Ich konzentrierte mich und versuchte, ihre Stimme zu identifizieren, doch sie schien das jetzt nicht zu wollen. Alles was ich hörte, war Schreien und Klagen. Hilferufe von vor langer Zeit ertrunkenen Seeleuten. Etwas schlug gegen den Bauch der Gondel. Im nächsten Augenblick sah ich durch ein Loch das Wasser hereinströmen. Ein weiterer Schlag. Wieder ein Leck. Die Gondel füllte sich schneller und schneller.
Zwar stand ich in erhöhter Position auf dem Heckschnabel, doch war mein Fahrzeug im Sinken begriffen, samt mir. Es schien zum Plan zu gehören. Mein Blick wanderte noch einmal zu den weit entfernten Lichtern des Lido. Würde ich bis dorthin schwimmen können? Unmöglich. Selbst, wenn es mir nicht möglich war, zu ertrinken, war ich dennoch verloren. Ich zog meine Stiefel aus und warf den Mantel ab. Gerade bevor mir der Boden buchstäblich unter den Füßen wegschwamm. Als Nächstes spürte ich eine Hand. Sie packte mich am Bein und riss mich in die Tiefe. Melsunia. Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte sich zu wehren. All das gehörte zu unserer Abmachung. Oder eher zu ihrem Plan. Nicht, was ich mir erwartet hatte. Sie hatte mich in einen entscheidenden Nachteil versetzt. Sie hatte mir den Rückweg unmöglich gemacht.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...