Der Junge packte seine Sachen und machte sich auf den Heimweg, während das Geisterkind immer noch am Treppenabsatz stand und ihm traurig nachblickte.
Ich kehrte in die Bibliothek zurück, begann den Tisch aufzuräumen und die gestapelten Bücher zu sortieren, als Milica und Dareios sich nahezu umgehend zu mir gesellten.
"Gut, dass du hier bist, Dareios", sagte ich. "Könntest du mir das Buch zurückgeben, das du Elia vorhin weggenommen hast?"
"Warum lässt du das einfach liegen und gehst aus dem Haus, während dein Sohn hier in Seelenruhe alles durchwühlen kann?", fuhr er mich an, während er keinerlei Anstalten machte, mir das Buch zu bringen, sondern sich mit überschlagenen Beinen in einem der Sessel niederließ. Ich hatte bereits verstanden, dass ihn dieses kleine Druckwerk aus irgendeinem Grund echauffierte, fand es aber trotzdem absurd, dass er sich deswegen dermaßen aufplusterte.
„Es ist ein gewöhnliches Geschichtenbuch, wie man es in jedem Trödelladen kaufen kann. Was ist daran verkehrt?"
"In jedem Trödelladen? Hast du es dort gekauft?"
„Es stand im Regal. Und ja, es muss wohl so gewesen sein. Vielleicht habe ich es irgendwann bei irgendeinem Händler gekauft. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern." Ich konnte mir nicht vorstellen, was das für eine Rolle spielen sollte.
„Es ist meines", warf Milica ein. „Ich habe es gekauft, das muss Jahrzehnte her sein. In so einer kleinen Buchhandlung, wer weiß, ob es die überhaupt noch gibt. Warum ist das so wichtig?"
Dareios warf uns beiden abwechselnd finstere Blicke zu.
"Warum, warum? Darum! Schaut doch selbst!"
Er warf das Heftchen aufgeschlagen vor uns auf den Tisch. Ich überflog den Titel Der unsterbliche Magier und ließ Milica das Geschichtchen zuerst lesen.
„Das hier hat der kleine Elia gelesen, während ihr weg wart. Wie kommt ihr überhaupt dazu, ihn alleine hier zu lassen?"
"Wir sind kurz hinaus, um uns einen Imbiss zu verschaffen. Das ist nicht verboten", sagte ich.
"Und das kannst du nicht erledigen, bevor dein Besuch kommt, oder danach? Du hättest mir sagen können, dass Elia alleine hier ist, dann hätte ich nach ihm gesehen."
„Es war nur für ein Moment", erwiderte ich. Es war mir selbst in gewisser Weise peinlich. Ich konnte es nach dem Aufstehen mittlerweile sehr gut einige Stunden aushalten, ohne mich sofort auf ein blutdurchströmtes Wesen stürzen zu müssen, aber heute Abend hatte ich mich miserabel gefühlt. So ausgetrocknet, als hätte ich mindestens drei Tage ohne einen Tropfen Blut zugebracht. Unter anderen Umständen hätte ich es mir wohl nie erlaubt, meinen Gast alleine zu lassen. Schon allein aus Gründen der Höflichkeit.
„Hier geht es um Lajos und Ersilia. Sehr stark vereinfacht natürlich." Milica hielt mir das Druckwerk hin und ich überflog schnell die Geschichte. Es las sich wie die Schilderung einer Begebenheit aus einer fernen Zeit. Bis vor kurzem war ich der Meinung gewesen, bei solchen Legenden handle es sich zu einem Großteil um reine Erfindung. Aber die Sache mit der schwebenden Musik und dem Roten Priester hatte ebenfalls gestimmt. Zumindest was die Musik betraf. Ob diese nun wirklich mit dem Antonio Vivaldi zu tun hatte, wer konnte das schon so wirklich sagen.
"Es sind Geschichten", stellte Milica gelassen fest. Sie schien ebenfalls beschlossen zu haben, Dareios nicht zu erzählen, worüber wir gestern gesprochen hatten. "Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Warum sollten die Leute wegen einer solchen Legende Verdacht schöpfen?"
"Nicht die Leute. Aber Juliens Sohn wird bald eins und eins zusammenzählen können. Vor allem wenn er jetzt öfter hier auftaucht. Es reicht schon, dass seine Mutter über uns Bescheid weiß. Aber warum sollte ein Fünfzehnjähriger darüber schweigen können?"
"Weil man sich auf ihn verlassen kann," erwiderte ich. "Elia ist ein gescheiter Junge, um vieles ernsthafter und vernünftiger als die meisten in seinem Alter."
„Ich finde, du solltest mit ihm reden", Dareios klang nun etwas versöhnlicher. Er regte sich zwar schnell über Kleinigkeiten auf, beruhigte sich meist jedoch genauso schnell. "Wie auch immer. Er ist dein Sohn und auch wenn er selber nichts von seinem Glück weiß, bist du doch für ihn verantwortlich. So wie ich für dich verantwortlich bin, für euch beide."
Bei diesen Worten warf er auch Milica einen scharfen Seitenblick zu, den sie nicht ohne gewissen Trotz erwiderte.
„Jeder tut seinen Teil, um das Geheimnis zu wahren. Wenn einer von uns auslässt, hängen wir alle mit drin, verstanden?"
Ich nickte und wandte mich wieder den Büchern zu. Auch, um zu verbergen wie sehr ich mich bei seinen Zurechtweisungen und Moralpredigten selbst wie ein verrotzter Schulbengel fühlte. Ich wusste nur zu gut, dass unsere Existenz davon abhing, dass wir uns alle blind auf einander verlassen konnten. Und dass ich vermutlich tot wäre, hätte sich Milica damals vor fünfzehn Jahren an die Regeln gehalten. Dareios machte manchmal wirklich kein Hehl daraus, wie mühsam er es fand, hier zwei Jungvampire beaufsichtigen zu müssen, obwohl er sich offensichtlich selbst nie um Vorschriften gekümmert hatte.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Narrativa StoricaVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...