Als Lucia am nächsten Morgen mit dem Waschwasser kam, blinzelte Elia die wirren Träume der Nacht weg und brauchte einige Augenblicke um in der sonnendurchfluteten Schlafkammer anzukommen. Er war im Traum mit Onkel Giulio in einer Gondel durch die labyrinthartigen Kanäle gefahren und überall im Wasser hatte er Gesichter gesehen. Schöne Gesichter, weder Mann noch Frau, und sie sprachen zu ihm und sangen und summten eine unbekannte Melodie. Giulio sagte das seien die Sirenen und er müsse ihnen widerstehen, koste es was es wolle. So wie Odysseus? Ja, genau so. Doch manche dieser Gesichter ähnelten dem seiner Schwester, manche sogar Giulio. „Pass auf", hörte er den Nachhall von Giulios Stimme in seinem Kopf. „Sonst geht es dir wie mir. Überleg es dir gut."
Er musste irgendwie verdreht geschlafen haben, denn seine Schultern und sein Rücken schmerzten. Abgesehen davon stand ihm absolut nicht der Sinn danach, aufzustehen. Doch es war sinnlos zu protestieren. Also rollte er sich ächzend aus dem Bett wusch sich das Gesicht und machte sich daran seine Schwester aus dem Bett zu werfen, die sich wie immer schlafend stellte und keinen Mucks von sich gab.
„Na warte", dachte er, schlich sich an und zog dann mit einem Ruck an der Bettdecke, doch der erwartete Widerstand blieb aus und er stolperte nach hinten gegen den Tisch, wobei der den Wasserkrug umwarf, dessen Inhalt sich nun über Tisch und Boden ergoss.
Lucia setzte zu einer Schimpftirade an, doch im Luftholen stockte ihr der Atem. Lucia und Elia standen nun beide da und starrten Cassandras Bett an, in dem lediglich ein paar Kissen und eine schwarze Perücke lagen, das Mädchen aber fehlte. Sie wechselten einige ratlose Blicke, in denen die unausgesprochene Frage lag, wie sie dies wohl Mama beibringen wollten.
Sie wusste sicher, was zu tun war, doch musste ihr die Botschaft erst einmal überbracht werden. Bevor die beiden nur ein Wort ausgesprochen hatten, wurde ihnen die Entscheidung abgenommen. Durch Annalisa selbst, die nun in der Tür stand. Der Lärm und das Gepolter konnten ihr kaum entgangen sein.
„Was in aller Welt ist hier los?", zeterte sie. „Könnt ihr nicht aufstehen und euch anziehen ohne dabei den gesamten Hausrat zu zertrümmern?"
Wortlos traten Elia und Lucia zur Seite und gaben den Blick auf Cassandras Bett frei. Mamas ärgerlicher Blick wich einem besorgten Stirnrunzeln, als sie auf das Bett zuging und die Perücke in die Hand nahm.
„Wann hast du deine Schwester zuletzt gesehen?", fragte sie und blickte Elia forschend an.
„Gestern Abend bevor ich zu Onkel Giulio ging. Sie saß im Speisezimmer und hat gerechnet." Irgendwie hätte ihm das schon gestern verdächtig vorkommen müssen. Dass Cassandra sich ohne zigmalige Aufforderungen an ihre Aufgaben setzte ... wann war das schon vorgekommen?
"Und beim Heimkommen?", fragte ihn seine Mutter. "Ist dir da nichts aufgefallen?"
"Nein. Ich bin ins Zimmer geschlichen und da schien sie schon zu schlafen. Ich habe es nicht überprüft, aber ihr Gesicht habe ich dabei nicht gesehen. Nur die Haare ..." Er deutete auf die Perücke, die seine Mutter immer noch in der Hand hielt. Sie nickte.
"Genau das habe ich auch gesehen, als ich in der Nacht noch einen Blick in euer Zimmer geworfen habe."
"Hast du eine Idee, wo sie hingegangen sein könnte?"
Elia zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. In letzter Zeit wollte sie ständig irgendwelche dunklen Winkel erkunden."
"So wie in Onkel Giulios Haus?"
"Vielleicht ist sie ja dort?", schlug Elia vor, doch seine Mutter schüttelte zweifelnd den Kopf.
"Das kann ich mir nicht vorstellen. Dann hättest du sie gesehen, oder? Außerdem hätte Giulio sie mittlerweile längst zurückgebracht."
"Sein Haus ist ziemlich verwinkelt. Vielleicht hat er sie gar nicht bemerkt. Wir waren die ganze Zeit in der Bibliothek."
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...