Auf einmal war alles still und dunkel. Die drängenden Stimmen und schrecklichen Bilder waren fort. Entkräftet ließ ich mich in die samtweiche Ruhe hineinsinken.
Würden sie wieder kommen? Ich hörte gedämpftes Reden von ganz weit weg. Doch die Stimmen klangen vertraut und echt. Milica, Dareios und ... war das Lajos? Oder ein neues Trugbild? War es das, was ich gesehen hatte? Trugbilder? Flammen, die aus dem Nichts kamen und Milica vor meinen Augen verschlangen. Arme, die sich wie Schlangen durch die Gassen wanden, Elia und Annalisa in die Fluten des Hochwassers zogen. Und ich wie gelähmt daneben. Wie festgekettet.
Aber das war ich nun nicht mehr. Ich konnte mich bewegen. Es strengte mich an, aber ich konnte mit etwas Mühe die Finger strecken und greifen. Da war etwas angenehm Kühles, Glattes auf meiner Haut und wenn ich ein wenig dagegen drückte, fühlte es sich weich an. Nach und nach gelang es mir, mein Handgelenk zu drehen und meinen Arm zu bewegen. Ich erkannte, dass das Weiche ein Kissen sein musste. Mein ganzer Arm zitterte, als ich versuchte, es zusammenzudrücken, doch ich war erleichtert, und ich konnte die Erleichterung endlich zulassen. Denn ich wusste, dass ich mich nicht umsonst freute. Es war echt. Dieses Kissen war echt. Und der vertraute Duft nach Kerzenwachs, nach Lavendel und Rosmarin und nach ... Milica. Ihren Geruch hätte ich überall erkannt. Meine Hand tastete noch ein wenig weiter und ich bekam den groben Stoff ihres Rocks zu fassen, dann ihre kühle Hand. Sie lag neben mir. Stück für Stück drehte ich den Kopf zur Seite, um sie ansehen zu können. Sie hatte ihren Kopf an meine Schulter gelehnt, und an ihrem Gesicht und ihrem Körper konnte ich keine Regung erkennen. Sie war wie erstarrt. Vermutlich war es gerade Tag. Doch wie kam es dann, dass ich wach lag? Das war mir nur am Anfang ein paarmal passiert.
Und irgendwie fühlte es sich jetzt an wie damals. Ich fühlte mich so ausgetrocknet, dass mir alles weh tat. Meine Kehle kratzte, als hätte ich Sandpapier geschluckt und der Gedanke ekelte mich. Ich versuchte, mich zu räuspern, aber das brannte noch mehr. Langsam und vorsichtig richtete ich mich auf, doch meine Knochen, meine Haut, alles war ganz steif und alles spannte. Ich betrachtete meine Hände. War das wirklich meine Hand? Sah ich aus, wie ein mit Haut bespanntes Skelett?
Ich schaffte es mit Müh und Not, mich aufzusetzen. Milica lag noch immer friedlich neben mir. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde sie nichts wecken. Aber ich musste etwas trinken. Jetzt. Auch wenn die erste Person die ich erwischen konnte, vermutlich jemand vom Personal war. Das war tabu in diesem Haus, aber was auch immer passiert war, es musste die Ausnahme rechtfertigen. Wie viel Zeit war vergangen? War ich in einem wochenlangen Albtraum gelegen, ohne je etwas zu trinken. Das wurde immer seltsamer. Ich hatte seit sechzehn Jahren nicht mehr geträumt. Aber was sollte es anderes gewesen sein, als ein Traum. Es durfte nichts anderes gewesen sein.
Zittrig schob ich mich an den Bettrand und bemühte mich aufzustehen. Ich musste es einige Male versuchen, ehe ich mir sicher war, dass meine Beine mich tragen und nicht einfach wegknicken würden. Gegen den Bettpfosten gelehnt, schlüpfte ich in meine Pantoffeln und fischte ungelenk den Mantel vom Haken, der dort für die Fälle hing, dass ich doch einmal bei Tageslicht hinausmusste. Der Stoff war dicht und lichtundurchlässig und er drückte schwer auf meine Schultern. Ich warf eine Decke über Milica, damit das Licht sie nicht traf und betätigte dann den Mechanismus, der die Tür zum Gang öffnete. Die Kapuze zog ich mir tief ins Gesicht und dennoch nahm mich das Tageslicht unbarmherzig in Empfang. Vor den Fenstern schien es bewölkt zu sein, aber immer noch hell genug. Es brannte auf der Haut und in den Augen. Ich stützte mich gegen die Wand und stakste ein paar Schritte über die knarrenden Holzdielen, die solchen Lärm machten, dass ich nicht lange unbemerkt blieb. Ich hörte Schritte näherkommen. Vielleicht jemand der nachschauen wollte, wer um diese Tageszeit hier herumpolterte. Ich hob die Kapuze vorsichtig an, um die sich nähernde Person erkennen zu können. Ein in Grau gekleideter Mann, der mir völlig unbekannt war. Er lief mit aufgeregt erhobenen Armen auf mich zu, doch hatte ich weder die Geduld noch das Interesse ihm zuzuhören. Ich schnappte ihn an der Schulter, riss ihm den Hemdkragen weg und verbiss mich gierig in seinen Hals. Ich ließ erst von ihm ab, als der Mann reglos zu Boden sackte. Dann drehte ich mich um und verschwand im Schrank.
Jemand würde sich schon kümmern. Signora Manfridi oder wer auch immer. Nach dieser Aktion fühlte ich mich noch erschöpfter, allerdings auch weniger unwohl als vorhin. Ich streifte den Mantel ab und ließ ihn zu Boden gleiten. Dann warf ich mich, immer noch unglaublich steif in den Knochen auf das Bett. Milica lag genauso da wie vorhin. Ich nahm die Decke von ihrem Gesicht, legte mich neben sie und sah sie eine Weile lang an. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie lächelte oft und das machte sie am allerschönsten. Ich hatte immer wieder versucht, meistens vergeblich, ihr hübschen Putz einzureden, Hüte, Schmuck und Schleifen, aber vermutlich hatte sie das gar nicht nötig. Zu weiteren Überlegungen über Milicas Schönheit kam ich nicht mehr, denn die Erschöpfung gewann schließlich die Oberhand.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...