Der Tag hatte nebelig trüb begonnen und war so geblieben. Es kam selten vor, dass Elia morgens nicht aus dem Bett kam. Meistens wachte er auf und war bereit für den Tag, aber heute vergrub er sein Gesicht ins Kopfkissen und hätte am liebsten weiter geschlafen und so getan, als gäbe es die Welt da draußen nicht. Ohne Cassandras leeres Bett vor seinen Augen zu haben und ohne daran denken zu müssen, was er gestern Nacht erlebt hatte. Ihn beschlich wieder diese kalte Angst, alle Menschen zu verlieren, die ihm vertraut waren. Zuerst seine Schwester, dann Onkel Giulio. Was würde der heutige Tag bringen? Wem stieß als Nächstes etwas Schlimmes zu?
„Elia?", hörte er die Stimme seiner Mutter aus der Küche. „Kommst du endlich? Es gibt viel zu tun!" Ein halbes Lächeln huschte über sein Gesicht. Das klang so normal, wenn Mama alle herumkommandierte und irgendwie richtete ihn das ein wenig auf. Vielleicht brachte der heutige Tag die Lösung. Vielleicht tauchte Cassandra heute noch auf und am Abend würde ein Brief von Milica ins Theater flattern, der ihnen mitteilte, dass mit Giulio alles wieder ganz in Ordnung sei. Vielleicht kam er sogar selbst vorbei, um sich eine Vorstellung anzuschauen. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm. Er konnte zumindest hoffen und versuchen, sich nicht verrückt zu machen.
Mama sorgte dafür, dass heute alle genug zu tun bekamen und Elia hatte nicht eine Sekunde lang Zeit zum Nachdenken. Am Vormittag sollte er mit ihr zusammen die alten Entwürfe für Stücke durchgehen, die noch im Schrank lagen. Solche, die Papa irgendwann einmal für Mist erklärt hatte und, die sie aus dem Küchenofen gefischt hatte.
„Nur gut, dass es ihm nie einfällt, selbst das Feuer anzuzünden", pflegte sie dann zu sagen, während sie das zerknüllte Papier glatt strich und in einer dafür vorgesehenen Schachtel im obersten Schrankfach verstaute. Oft waren diese Stückentwürfe wirklich Mist, aber, wenn man die etwas besseren Ideen verwendete und die schlechten nicht, dann ließ sich aus drei üblen Stücken noch ein halbwegs brauchbares zusammenschustern.
Am Nachmittag verdonnerte sie ihn dazu, den jüngeren Kindern die neuen Choreografien beizubringen, die im nächsten Stück während des Intermezzos getanzt werden sollten. Während er den Kleinen die Schritte vorhüpfte und deren Füße kontrollierte, blieb ihm wahrhaftig keine Zeit zum Nachdenken. Und er war Mama dankbar dafür, dass sie die Tanzprobe für heute angesetzt hatte. Anschließend sprang er quasi übergangslos in sein Kostüm für die Abendvorstellung. Er ließ sich das Gesicht mit weißem Puder und Wangenrouge bemalen, setzte die Perücke auf und tanzte und blödelte sich durch das heitere Singspiel. Das Publikum lachte Tränen und er wurde sogar von den Kollegen gelobt, er sei heute besonders aufmerksam bei der Sache gewesen. Was in Anbetracht der Umstände doch bemerkenswert sei. Er wusste aber auch, dass sie ihn aufheitern und ablenken wollten.
War es nicht so, dass sich viele vor den Unannehmlichkeiten ihres Alltags auf die Bühne flüchteten? In die Welt, die diese einen Abend lang darstellen sollte. Und je verdrießlicher einem der Tag gewesen war, desto eher verschmolz man am Abend mit seiner Rolle. Elia hatte vielleicht nicht die größte Erfahrung mit verdrießlichen Tagen, aber es ging auch nicht immer gleich harmonisch zu. Oft gab es Streit. Dinge die ihn ärgerten und dann entschlüpfte er dem Ärger einfach für ein paar Stunden, indem er ein Anderer wurde und die Leute im Saal das ebenfalls glauben machte.
Doch das dauerte immer nur kurz. Kaum war der Applaus verebbt, der Rausch vorüber und die Theaterwelt verschwunden, so war auch der Alltag wieder da – mit all den Schwierigkeiten, die es auch vor der Vorstellung schon gegeben hatte.
Erschöpft zog er sich um, hängte sein Kostüm auf den Haken und wusch sich die Farbe aus dem Gesicht. Dann lief er hinauf in die Wohnung, wo er Lucia nebst einer vor sich hin köchelnden Suppe vorfand.
„War jemand hier?", fragte er. „Ist irgendein Brief gekommen?"
Sie schaute ihn an, als wunderte sie seine ungestüme Frage und schüttelte dann bedauernd den Kopf. Er überlegte kurz und wandte sich nach der Tür. Wenn eine Nachricht gekommen war, dann hieß das nicht unbedingt, dass die sofort hier in der Wohnung gelandet war. Vielleicht war sie beim Portier abgegeben worden. Oder direkt an Papa, oder Mama. Sie hatten den ganzen Tag nichts gesagt, aber das hieß nichts. Vielleicht war die Nachricht erst während der Vorstellung gekommen. Wenn Giulio oder Milica etwas geschickt hatten, dann bestimmt erst am Abend. Es konnte nicht sein, dass es gar keine Neuigkeiten gab. Vielleicht hatten Papa und Mama was erfahren und hatten vermeiden wollen, dass alle kurz vor der Vorstellung verrückt spielten. Er war sicher ganz umsonst so schnell hinauf gerannt.
Also rannte er über die knarzende Holztreppe zurück ins Theater, er hetzte an den letzten Zuschauern vorbei durchs Foyer und durch eine der Seitentüren hinter die Bühne, wo sich die Garderoben seiner Eltern befanden. Es waren nicht mehr viele von der Truppe da. Vermutlich hatten sich die meisten schon vor dieser gedrückten Stimmung in die nächste Schenke geflüchtet. Er hielt kurz inne, als er seine Eltern erblickte. Sein Vater trug noch die gepuderte Bühnenperücke auf dem Kopf, während seine Mutter die Ihrige schon abgenommen hatte. Sie hielt sie immer noch in der Hand und zupfte energisch an deren Zierbändern. Die beiden waren in ein hitziges Gespräch vertieft. Es war Elia nicht entgangen, dass Papa vom gestrigen nächtlichen Ausflug der Beiden wenig begeistert gewesen war. Und der Gedanke, dass Giulio und dessen Verwandte mit Cassandras Verschwinden zu tun haben konnten, schien ihn zusätzlich wütend zu machen. Dabei glaubte Elia gar nicht, dass sie persönlich etwas damit zu schaffen hatten.
Seine Eltern hielten inne in ihrer Debatte, als sie merkten, dass er sich ihnen näherte. Es war ihm nun etwas unangenehm zu fragen, da er doch genau wusste, worüber sie sich unterhalten hatten. So sagte er nichts, doch musste er sie dennoch fragend angesehen haben, denn seine Mutter antwortete sofort mit einem Kopfschütteln.
„Wir haben noch nichts. Keine Nachricht. Ich habe auch noch einmal bei der Polizei urgiert." Sie fügte diesen Satz mit etwas zu großem Eifer hinzu. Vielleicht wollte sie einfach nicht zugeben, dass auch sie sich die größte Hilfe von Giulios Verwandten erwartete. „Die Beamten haben meine Meldung heute zur Abwechslung einmal ernst genommen. Jetzt wo nicht nur der gesamte Sestiere, sondern die ganze Stadt über Cassandras Verschwinden Bescheid weiß. Alle reden darüber. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder auftaucht. Da wette ich drauf." Fast hätte er ihr diese gespielte Zuversicht abgekauft, aber der Blick seines Vaters sagte etwas anderes.
„Mach dir keine Gedanken." Auch er versuchte, hoffnungsfroh zu klingen „Morgen früh wissen wir vielleicht mehr. Leg dich schlafen, damit du dann wieder frisch dabei sein kannst. Wie ich gehört habe, hat den Kindern die Probe mit dir Spaß gemacht, und sie haben sich sogar das meiste gemerkt. Ihr solltet das morgen noch einmal wiederholen, sonst haben sie trotzdem alles wieder vergessen." Elia seufzte und nickte. Er fühlte sich in der gleichen Zwickmühle, wie schon am Vorabend. Einerseits wollte er nichts lieber, als sofort losrennen und Giulios Haus aufsuchen. Aber so einfach verschwinden, wie Cassandra es getan hatte? Was wenn ihm auch etwas passierte und er nie wieder auftauchte? Andrerseits, die Sache ansprechen und geradeaus sagen, wohin er wollte, das ging auch nicht, denn er wusste, wie sie reagiert hätten. Sie hätten gewiss versucht, ihm den Plan auszureden. Es hätte den Zank zwischen den beiden womöglich noch angeheizt. Also blieb ihm nur eine Möglichkeit.
„In Ordnung", sagte er zu seinen Eltern. „Ich bin verdammt müde." Er musste sich nicht einmal sehr bemühen, ein Gähnen vorzutäuschen, denn das kam ihm ganz von selbst. Oben erzählte er Lucia, er habe keinen Hunger und er wolle sich gleich hinlegen, womit er sich in seine Schlafkammer verzog, um das Bett zu präparieren. Ungefähr auf die Art, die ihm vorgestern schon seine Schwester vorgemacht hatte. Doch versteckte er unter der Bettdecke zur Sicherheit eine Nachricht an seine Eltern. Für den Fall, dass er nicht rechtzeitig zurückkam und sie sich Sorgen machten, dann wussten sie wenigstens, wo er war. Er löschte die Kerze im Zimmer und wartete auf dem Weg nach draußen den Moment ab, in dem Lucia ihm den Rücken zudrehte und schlüpfte von allen unbemerkt aus dem Haus.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...