Am nächsten Abend nachdem alle sich ausgeruht und von den Aufregungen der vergangenen Nacht erholt hatten, saßen Menschen und Vampire zusammen im roten Salon. Cassandra erzählte ein wenig von ihrem Abenteuer bei der Sirene war. Der Rest der Gruppe lauschte andächtig und teilweise ungläubig. Es war gewiss eine Geschichte, die für Menschen nicht leicht zu fassen war, aber als Vampir hatte man schließlich bereits einiges erlebt. Da klang so eine Geschichte über Sirenen vielleicht abstrus, aber es war nichts, das man für unmöglich halten konnte.
Cassandra klang ziemlich enttäuscht, als sie ihr Abenteuer erzählte. Sie hatte der Sirene geglaubt, die Erwartungen in ihr geweckt hatte, vielleicht auch eine Sehnsucht, die sich jetzt nicht erfüllen würde. Das Mädchen berührte immer wieder den Anhänger, den es um den Hals trug. Elia der daneben saß, hielt ihre Hand. Die Kinder wirkten nun so viel erwachsener, als an dem Tag, an dem ich sie auf dem Dachboden eingesammelt hatte. Diese Erlebnisse hatten etwas in ihnen verändert. Die Zeit würde zeigen, was das genau war und wie es sich auswirken würde. Auf jeden der beiden und natürlich auch auf mich.
Der letzte, der in den Salon trat, war jener Bartolomeo Sala. Der Mann, den Dareios den grauen Bruder nannte. Er hatte tiefliegende dunkle Augen und machte einen recht mitgenommenen Eindruck. Ich blickte ihn an und wusste, dass ich an seiner Unpässlichkeit nicht ganz unschuldig war. Unsere Blicke trafen sich und mir schien, dass auch er mich erkannte. Auch wenn ich es für unmöglich hielt, dass er sich genau an das erinnern konnte, was ich mit ihm angestellt hatte. Für einen Moment blickte ich zu Dareios, in dessen Augen ich ein amüsiertes Aufblitzen bemerkte. Er schien sich wohl für besonders schlau zu halten, diesen Menschen mit Theriak und Opium außer Gefecht zu halten, bis wir alles erledigt hatten. Und Dareios schien es auch nicht für notwendig erachtet zu haben den guten Mann einzuweihen. Hier stimmte ich mit ihm überein. Es war wohl unnötig. Unser privates Problem mit der Sirene ging ihn nun wirklich nichts an.
„Ich war wohl einige Tage unpässlich", sagte er und räusperte sich verlegen. „Doch ich danke Ihnen für ihre Gastfreundschaft."
„Das versteht sich doch von selbst", sagte Dareios und bot ihm mit einer devoten Verbeugung einen Platz an, den unser Gast dankbar in Anspruch nahm, ehe er mit unstetem Blick in die Runde sah. Er blickte vor allem die beiden Kinder und mich an. Einer von uns blickte zum anderen, und auf seltsame Art war eine Art Vertrautheit zwischen uns entstanden. Die beiden jungen Menschen, der fremde Mann und ich hatten nun wohl eine Gemeinsamkeit.
„Ihr spürt wohl, dass es immer noch da ist", sagte er. Elia nickte sofort, Cassandra presste die Lippen fest zusammen, als hätte sie nicht vor diesem Mann irgendwas darüber zu sagen und ich selbst stimmte ihm nach einigem Zögern zu. Das Amulett schien das Dunkel und die seltsamen Kräfte von uns fernzuhalten, doch gleichzeitig spürten wir alle, dass nichts mehr war wie vorher. Dieses Unbenennbare war immer noch da.
Bartolomeo Sala bat die Anderen, uns allein zu lassen. Dareios schien dies ein wenig zu bedauern, gewiss wollte er alles über dieses neue Geheimnis herausfinden. Annalisa und Flavio sahen den Mann skeptisch an und blickten dann zu mir. Sie schienen immer noch verwirrt zu sein von der Situation. Was geschehen war, schien so schwer fasslich zu sein. Selbst mir fiel es schwer, zu begreifen, dass dies nun wohl Auswirkungen auf unser restliches Leben haben würde.
Als alle den Raum verlassen hatten, sah Bartolomeo Sala uns mit seinem durchdringenden Blick an. „Es braucht mehr als ein Amulett, um mit dem hier umgehen zu können. Ich möchte euch alle drei bitten, mit mir nach Padua in unser Ordenshaus zu kommen, um zu lernen, wie man damit umgeht, und wie man sich dagegen zur Wehr setzt, sodass niemand von außen auf euren Geist einwirken kann, und ihr eure neuen Fähigkeiten nicht missbräuchlich einsetzt", erklärte er.
„Das geht nicht. Das Theater braucht uns, und unsere Eltern ...", beeilte Elia sich einzuwerfen. Ich konnte meinem Sohn ansehen, dass ihm der Gedanke an dieses Ordenshaus überhaupt nicht behagte.
„Eure Eltern wissen, dass es wichtig ist. Sie werden bereit sein, euch für einige Wochen zu entbehren. Ihr wollt doch zu eurem gewohnten Leben zurückkehren. So ist dies unumgänglich."
Elia blickte zu mir. Vielleicht sah er jetzt, dass er keine Wahl hatte. Anders als seine Schwester, die immer noch trotzig vor sich hinblickte. Ich selbst hatte, was die Sache anging meine eigenen Bedenken. Wie konnte ich drei Wochen lang in einem Ordenshaus leben, womöglich nach den Regeln dieser Brüder, ohne dabei mein Geheimnis zu verraten. Eine gewisse Neugier auf das, was uns dort erwarten würde, konnte ich jedoch kaum verhehlen. Ich wollte mehr über meine neuen Fähigkeiten herausfinden und ich sah es Cassandra an, wie sehr sie darauf brannte. Elia war wohl der einzige von uns dreien, der skeptisch war und, der am liebsten haben wollte, dass alles wieder so wurde, wie es gewesen war.
Schließlich nickte ich den beiden aufmunternd zu und blickte dem grauen Bruder in die Augen.
„Wir werden gerne mit Ihnen kommen, um alles zu erfahren, was wir über das was geschehen ist noch lernen können."
Vielleicht wirkte ich ihm etwas zu enthusiastisch, denn er schaute mich einen Moment lang misstrauisch an und nickte dann.
„Wir können niemanden brauchen, der diesem Weg aus den falschen Motiven folgt", sagte er. Nun ja, die Frage nach Motiven hatte sich uns nie gestellt. Niemand hatte uns gefragt, ob wir das hier wollten, doch war ich nun bereit zu lernen und zu entdecken, was auch immer vor mir lag.
***
In der Nacht vor unserer Abreise nach Padua stand uns eine weitere Mission bevor. Wir begaben uns an den Gehweg, der an den Fundamenten des kleinen Kanals an unserem Haus entlang führte. Ich hatte Dareios bereits die Stelle gezeigt, an der er mit der Spitzhacke die Pflastersteine lockern sollte. Und es dauerte nicht lange, bis wir auf Gebeine und einen kleinen Schädel stießen. Wir sammelten ein, was von den bleichen Knochen noch zu finden war und wickelten alles in ein Tuch.
Ersilias altehrwürdiger, venezianischer Name, sowie ein angemessener Obolus vermochten es selbst uns die Tore zur Gruft der Kirche von San Dionisio zu öffnen. Die Theatervorstellung war längst vorüber, als unsere Gondel am Campo San Dionisio zwischen dem Theater und der Kirche anlegte. Der Platz lag beinahe leer vor uns. Wir traten an Land und in dem Moment lösten sich die Gestalten der beiden Kinder aus dem Schatten des Theatergebäudes. Ich erblickte auch Annalisa, die dort stand und uns zuwinkte. Anscheinend wollte sie ihre Kinder nicht mehr aus den Augen lassen. Allerdings sah es aus, als vertraute sie bei dem Ausflug in die Gruft gerne auf meine Aufsicht. Sie würde das während der nächsten Wochen ebenfalls tun müssen. dort bereits die beiden Kinder auf uns.
Wir pochten an die Kirchentür und ein Mönch öffnete uns schweigend. Wer wusste schon, was Ersilia für einen Grund vorgebracht hatte, um den frommen Leuten plausibel zumachen, dass es ganz respektable Ursachen haben konnte, auf ein Begräbnis so alter Knochen zu später Stunde zu bestehen. Aber in manchen Kirchen wurden nicht zu viele Fragen gestellt. Schon gar nicht wenn jemand von Ersilias noblem Auftreten um einen Gefallen bat. Der Mönch geleitete uns hinunter in die Gruft, wo die Gebeine in einer Wandnische unter dem Seitenaltar des heiligen Nikolaus, dem Schutzpatron der Kinder beigesetzt wurden.
Man sagt uns eine gewisse Unverträglichkeit bezüglich Weihwasser und religiöser Symbolik nach, doch ist dies in den Bereich der Legende zu verweisen. Im Lauf der Zeit haben wir zwar die Frömmigkeit nach Art der Sterblichen abgelegt, doch hätte es mitunter seltsam gewirkt das Ave Maria, das die Mönche nun beteten nicht mitzusprechen. Die von Kerzen beleuchteten Räume der Gruft füllten sich mit dem Duft von Weihrauch, heißem Wachs und dem monotonen Raunen der Gebete. Mir war, als sähe ich ein schwaches Leuchten aus der Wandnische entsteigen. Es schwebte auf die beiden Kinder zu, ging einige Male durch sie hindurch. Für einen Augenblick unterbrachen sie überrascht ihr Gebet. Sie lächelten einander an, sahen dann auf den immer fahler leuchtenden Fleck in der Luft, der schließlich ganz verblasste und eine friedliche Atmosphäre in den feuchten dunkeln Grufträumen zurückließ.
Ende
![](https://img.wattpad.com/cover/191550181-288-k523854.jpg)
DU LIEST GERADE
Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historische RomaneVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...