Milica schlug die Augen auf und spürte die harten Bretter der Truhe unter ihrem Rücken. Tradition hin oder her. Sie hielt nichts davon, den Tag in so einer Kiste zu verbringen. Doch Dareios hatte ihr versichert, dass viele Vampire eher dachten, es sei neumodischer Schnickschnack, wie ein gewöhnlicher Sterblicher in einem Bett schlafen zu wollen. Er erzählte dann immer von den besonders traditionsbewussten Vampiren in der Walachei, die schworen, die einzig standesgemäße Art für einen Vampir den Tag zu verbringen, sei es in einem Sarg zu liegen. Das sei auch sicherer, denn wenn jemand tagsüber die Burg durchsuchte, dann schaute er meist nicht in die Gruft der Schlosskapelle. Auf walachischen Burgen, mochte das vielleicht auch seine Berechtigung haben, aber hier in Venedig waren unterirdische Grüfte eher selten und, wenn es sie gab, so standen sie meist unter Wasser.
Milica setzte sich auf, streckte sich und stieg dann aus der Truhe. Sie strich sich das verdrückte Kleid glatt und kämmte sich notdürftig mit den Fingern durch die Haare. Vorsichtshalber öffnete sie die Fensterläden, um zu sehen, ob es draußen wirklich schon Nacht war. Zuerst nur einen Spalt breit. Sie wollte nicht ins Sonnenlicht gelockt werden und nachdem, was Julien passiert war, traute sie ihren Instinkten diesbezüglich nicht so ganz. Doch vor dem Fenster lag die Lagune, so dunkel wie gestern bei ihrer Ankunft.
Sie drückte die Türschnalle hinunter und atmete erleichtert auf. Die Tür war unverschlossen. Sie schlich über die Gänge in den Salon, wo sie, wie erwartet die beiden Alten vorfand. Lajos stand an einem Stehpult, in ein großes altes Buch vertieft, während er Ersilia, die daneben in einem Sessel saß, immer wieder Blicke zuwarf. Keiner der beiden sprach ein Wort, doch ihre Köpfe wandten sich Milica beinahe gleichzeitig zu.
„Wir sollten so schnell wie möglich mit Dareios sprechen", sagte Ersilia. „Es wundert mich, dass er nicht selbst gekommen ist", fügte sie noch hinzu und Milica versuchte, sich zu beherrschen und die Genugtuung, die sie dabei empfand nicht in ihrem Gesicht widerspiegeln zu lassen. Auch wenn sie wusste, dass das vollkommen unnötig war und die beiden sie wahrscheinlich trotzdem wie ein offenes Buch lesen konnten.
„Irgendwer musste bei Julien bleiben", sagte sie und versuchte dabei so neutral wie nur möglich zu klingen. „Ihr könnt ihn das gleich selbst fragen. In der Tat war es meine Idee, euch hinzuzuziehen." Die beiden sollten bloß nicht glauben, Dareios habe sie aus eigenem Antrieb vorgeschickt. Auch wenn es ihr jetzt auf einmal etwas kindisch vorkam, so darauf herumzureiten. Wäre es nach ihm gegangen, dann würden sie jetzt vermutlich däumchendrehend im Palazzo sitzen und warten bis sich alles in Wohlgefallen auflöste. Oder bis der großartige Dareios die Lösung fand, nur damit sie sich dann für die nächsten fünfhundert Jahre anhören konnten, wie er ihnen wieder einmal die Haut gerettet hatte. Das einzig Tröstliche an diesem Szenario war, dass Julien die Sache dann unbeschadet überstanden hätte. Dafür war sie zwar bereit einige Schmach einzustecken, aber untätig zuschauen wollte sie auf keinen Fall.
Sie glaubte, bei ihren Worten in Ersilias Zügen ein feines Lächeln zu erkennen, während Lajos ihr nur einen strengen Blick zuwarf. Er hatte heute Abend noch kein einziges Wort an sie gerichtet. Sie fragte sich, wie viele Jahrhunderte es noch dauern konnte, bis sie sich auch nur seine Beachtung verdient hatte. Aber als ungebildete Göre vom Land konnte sie kaum darauf hoffen. Dass sie mittlerweile längst lesen und schreiben konnte, reichte wohl kaum, um in seiner Achtung zu steigen.
Sie war nun froh, von dieser Insel wegzukommen, und ließ sich deswegen auf keine weiteren Debatten ein, sondern folgte den beiden zum Steg, wo ein Gondoliere samt Gefährt bereits auf sie wartete. Wusste der Teufel, wo der auf einmal hergekommen war. Sie bestiegen die Gondel und nahmen in der mit schwarzem Samt ausgekleideten Kabine Platz. Sie verbrachten die Fahrt schweigend und Milica spähte immer wieder zwischen den Vorhängen hindurch auf das Wasser. Sie fragte sich, ob die Alten wohl Gedanken lesen konnten. Dareios hatte früher immer wieder darauf bestanden, dass sie sich darin üben sollte, an nichts zu denken. Das sei eine gute geistige Übung und in manchen Situationen lebensrettend. Zumindest konnte einem das vermutlich Schwierigkeiten ersparen, wenn man es mit Gedankenlesern zu tun hatte. Es half zumindest einen klaren Kopf zu bewahren, wenn man vor Ungeduld auf Nadeln saß, weil einem vielleicht gerade die Zeit davonlief.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...