Es war der Abend, an dem alles seinen Anfang nahm. Ich ließ die Rückwand des Schranks hinter mir einrasten und trat hinaus auf den Gang. Ich folgte den Klängen des Streichquartetts, die mir schon aus der unteren Etage entgegen schwebten. In Venedig war man sich einig, dass es kaum Unterhaltsameres gab, als eine der seltenen Abendgesellschaften in unserem Palazzo. Die Gründe hierfür waren höchst fragwürdig, aber für gewöhnliche Sterbliche wohl nachvollziehbar.
Persönlich zog ich es vor, nicht allzu bald nach Sonnenuntergang zu erscheinen, sondern wartete lieber, bis die gesamte Gesellschaft versammelt war. Das fiel mir nicht schwer. Immerhin pflege ich meine Garderobe stets mit allergrößter Sorgfalt auszuwählen, was ich nicht von allen in diesem Haushalt befindlichen Personen behaupten kann. Auf diese Art sind jedenfalls immer schon genügend Gäste im Salon anwesend, um meine tadellose Erscheinung auch zu würdigen.
Ich schritt durch die von versilberten Kandelabern erleuchteten Vorzimmer und betrat in freudiger Erwartung den burgunderroten Salon. Doch musste ich alsbald ernüchtert feststellen, dass meine beiden Hausgenossen, Milica und Dareios, auf dem besten Wege waren, mir meinen glänzenden Auftritt abspenstig zu machen. Sie hatten mit ihrer billigen Vorführung begonnen, ohne auf mich zu warten. Ein geschmackloses Spektakel, das die Aufmerksamkeit der Gäste derart in Anspruch nahm, dass sie mein Eintreten kaum zur Kenntnis nahmen. In gereizter Stimmung durchquerte ich den Raum an der Rückseite und stellte mich an die Fensterwand, um das unwürdige Schauspiel überblicken zu können.
Der burgunderrote Salon war ein düsterer mit dunklem Holz getäfelter Raum im Stile des vorigen Jahrhunderts, der die Vorderfront des Gebäudes einnahm. Wenn die Vorhänge aus schwerem Seidendamast nicht geschlossen waren, hatte man von hier einen hübschen Blick auf den vorbei führenden Kanal und die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite. Persönlich fand ich den lindgrünen Salon, den wir erst vor wenigen Jahren neu einrichten hatten lassen, wesentlich freundlicher und geeigneter für eine solche Veranstaltung. Den Ansichten eines über 200-jährigen war mit Argumenten der Mode und des guten Geschmacks allerdings kaum beizukommen.
Zu allem Überdruss hatten Milica und Dareios, rein gar nichts dabei gefunden, die Ausgewogenheit des Interieurs der Bequemlichkeit der Besucher zu opfern. Es sah aus, als hätten sie Sitzgelegenheiten aus allen Räumen des Gebäudes herbeischleppen lassen. Nun standen die Salonmöbel, deren Sitzbezüge auf den Farbton von Vorhängen und Tapeten abgestimmt waren, neben flaschengrün bespannten Sofas aus der Bibliothek und den kanariengelb gepolsterten Stühlen aus dem Speisezimmer, die ich immer schon für eine unzumutbare Scheußlichkeit gehalten hatte. Was hatten sie sich zudem dabei gedacht überall diese apricotfarbenen Zierkissen zu verstreuen?
Ungefähr fünfundzwanzig Menschen saßen nun über dieses Potpourri an Sitzmöbeln verteilt und verfolgten gespannt, wie sich Dareios völlig übertrieben vor ihnen verbeugte. Die Versammelten gaben enthusiastischen Beifall für einen offenbar soeben vorgeführten Zaubertrick und schmetterten ihm ihre Bravorufe entgegen. Ich wusste, dass dies der Augenblick war, in dem er das, was er den Gipfel seiner Kunst nannte, unter Beweis stellen würde.
Mit einer Handbewegung brachte er die Bewunderer zum Schweigen.
"Wollen Sie, meine hochgeschätzten Gäste, nun Zeugen werden, wie ich selbst den Tod überwinde?" Ein Raunen ging durch die Menge. Alle wussten, was jetzt kommen würde, entweder weil sie dem Trick schon einmal beigewohnt hatten, oder weil ihnen jemand davon erzählt hatte.
"Sehen sie zu, wie ich meine geliebte Milica erschieße!" Seine dunkle Baritonstimme donnerte durch den Salon und ließ jeden der Anwesenden den Atem anhalten. Die Fächer der Damen wedelten etwas schneller und Riechfläschen wurden in Reichweite gebracht, um zur Hand zu sein, sobald es zum Äußersten kam. Das Streichquartett, das in einer Ecke des Salons die Vorführung begleitet hatte, hörte auf zu Spielen. Einzig das Knistern aus dem offenen Kamin drang in die Stille hinein.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...