Cassandra war froh, dass sie nicht mit ihrem Bruder zum Französischunterricht musste. Eine Zeitlang hatte Papa davon gesprochen, dass sie das auch lernen sollte, und dass man damit nicht früh genug anfangen konnte. Aber dann hatten die Eltern beschlossen, noch zu warten. Sie wollten Onkel Giulio nicht gleich zwei Kinder aufs Auge drücken. Außerdem wurde sie gebraucht. Nicht heute. Aber an anderen Tagen. In fast jedem Stück wurde irgendwann getanzt, zumindest in den Intermezzi. Oder man brauchte Kinder, die irgendwo auf der Bühne herumstanden, weil das immer so gut ankam. Doch das Beste war, wenn Mama und Papa auf der Bühne standen, Elia ebenfalls fort war und ihr praktisch niemand sagen konnte, was sie tun sollte und was nicht. Als der Vorhang hochging, hatte sie die Rechenaufgabe längst fertig.
Das Rufen und Locken war in den letzten Tagen stärker geworden. Jetzt wollte sie ihm folgen, und diesmal konnte niemand sie kontrollieren oder zurückhalten. Zur Sicherheit, falls Elia früher zurückkam als sie, beschloss sie, ihr Bett entsprechend zu präparieren. Dazu rollte sie ein paar Kissen in ihre Bettdecke und arrangierte eine alte Perücke aus dem Fundus auf dem Kopfkissen, sodass man von weitem glauben konnte, sie schliefe schon ganz brav. Dann zog sie Stiefel und Kapuzenmantel an, und huschte aus dem Haus.
Sie musste einfach raus und die Stadt erkunden, die während der letzten Tage begonnen hatte sich zu verändern. Sie war lebendig geworden. Kein stummer Ort mehr aus Stein und Wasser. Wenn sie ihr Ohr an eine Hausmauer legte, so war ihr, als spürte sie dahinter deren Herzschlag pulsieren und die Gesichter an den Häuserfassaden, die steinernen Masken, die kleinen Drachen und Dämonen folgten ihr mit ihren Augen und sie zwinkerte ihnen verschwörerisch zu. Sie wusste, dass nicht viele wahrnehmen konnten, was sie nun sehen konnte und die neu entdeckten Wesen, schienen zu neuen Freunden zu werden. Sie gehörte jetzt dazu. Die Magie, die in der Luft lag, und vielleicht immer schon hier gewesen war, gehörte nun auch ihr.
Schnellen Schrittes entfernte sie sich ein paar Häuserecken weit vom Theater, hüpfte über Brücken und überquerte die altbekannten und dennoch völlig neu wirkenden Plätze. Sie konnte das Pferd eines Reiterstandbilds schnauben hören und spürte dessen Atem an ihren Fingern, als sie ihm über die steinernen Nüstern strich. Nie zuvor hatte sie bemerkt, wie lebendig sich Stein anfühlen konnte. Als sie an einer Hausecke vorbei lief, erschrak sie kurz. Zwei faustgroße, weiße Augäpfel fixierten sie. Sie gehörten einem hässlichen Maskaron, einem steinernen Maskengesicht, das sie von einer Kirchenmauer aus anstierte. Das fratzenhafte Gesicht war aus weißem Stein gehauen und größer als sie selbst. Seine verzogenen Lippen hatten die Dicke ihrer Unterarme und sie begannen sich zu bewegen.
Nimm dich in Acht. Mach's wie dein Bruder!
"Niemals, du hässlicher Tropf!", schrie sie ihn an und vergaß dabei ganz darauf, in ihren Gedanken zu sprechen. Der Schreck fuhr ihr in die Beine und sie rannte über zwei weitere Brücken, bevor sie ihre Schritte wieder verlangsamte und sich nicht mehr erklären konnte, wie ihr ein Maskaron solche Angst machen konnte. Er hatte ihr nichts getan und war nicht einmal in der Lage dazu. Dafür wurde jetzt eine andere Stimme deutlicher. Seltsam, wie sogar Gedankenstimmen ihre eigene Klangfarbe haben konnten. Das hatte sie vorher nie bemerkt. Es war eine Frauenstimme, die zu ihr durchdrang, angenehm und melodisch. Und gleichzeitig anders als alle Stimmen, die Cassandra kannte. Das lag bestimmt daran, dass es eben keine wirkliche Stimme war. Es waren klingende Gedanken. Klar, dass die anders waren als die Worte richtiger Menschen.
Komm! Komm zu mir!, sagte sie und Cassandra blickte sich um. Sie konnte niemanden sehen. Um sie herum standen dicht gedrängte Hausmauern mit kleinen Fenstern und Balkonen, aus der finsteren Häuserschlucht floss ein Kanal unter der im gelblichen Lichtschein liegenden Brücke hindurch und verschwand dahinter wieder im Dunkel der Häuser. Cassandra stieg die Stufen der geländerlosen Brücke hinauf und blieb in der Mitte stehen.
Wo bist du?, wollte sie wissen, insgeheim stolz auf sich, dass sie das Gedankensprechen schon ganz gut beherrschte, obwohl es ihr niemand beigebracht hatte.
Setz dich auf die Brücke, antwortete die Stimme und Cassandra tat wie ihr geheißen. Sie ließ sich in der Mitte des Brückenbogens nieder, ihre Beine baumelten über den Rand. Das Wasser unter ihren Schuhen schlug feine Wellen, dann tauchte ein Gesicht unter dem bleiern glänzenden Wasserspiegel hervor und lächelte ihr verheißungsvoll entgegen.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...