14. Kapitel (1/4) - Sirenengeschrei

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Einige Gassen weiter wurde Milica fündig: Ein herumspazierender Handelsreisender, womöglich auf der Suche nach gewissen Etablissements, die bei Landgängen gerne frequentiert wurden. Später würde er vielleicht der Meinung sein, Banditen hätten ihn überfallen. Aber ihr reichte das nicht. Die letzte Nacht hatte ihre Energien beträchtlich schwinden lassen. Sie überquerte die Rialtobrücke, um die Gegend zu wechseln, und sich auf der anderen Seite des Canale Grande in San Polo noch einmal sattzutrinken. Dann würde es nicht so auffallen.

Als sie genug hatte, fühlte sie sich ruhiger und, sie beschloss, nicht den direkten Weg zurück zu nehmen. Sie wollte unterwegs etwas Klarheit in ihre Gedanken bringen. Ihren Ausbruch von vorhin bereute sie nicht. Sollte Dareios doch die Konsequenzen davon ausbaden, dass er seine Brut so wenig im Griff hatte, dass sie ihm selbst vor den Alten eine Szene machte, oder sich von unsichtbaren Mächten verführen ließ. Sie wäre bereit gewesen, Dareios zu vergeben, hätte er nicht so getan, als wäre ihm von Anfang an klar gewesen, wohin alles führen würde. Warum hatte er Julien dann nicht gewarnt? Gut, er hatte diffuse Warnungen um sich gestreut, aber wer ließ sich von sowas schon ernsthaft einschüchtern. Vermutlich hatte Julien sich dadurch erst recht ermutigt gefühlt. Es hatte seine Neugier angestachelt. Vielleicht eine kindische Reaktion, aber sie kannte Dareios gut genug, um zu wissen, dass es bei ihm nicht anders gewesen wäre, und vermutlich auch nicht bei ihr selbst. Eigentlich kannte sie niemanden, der undeutliche Andeutungen von Gefahr, als etwas anderes als eine direkte Aufforderung ausgelegt hätte.

Dareios hatte eben erst herausgefunden, womit sie es zu tun hatten und ganz plump versucht damit vor den Alten aufzutrumpfen. Glaubte er denn, die durchschauten ihn nicht? Und während sie sich mit solchen Kindereien beschäftigten, lag Julien immer noch wie ein Toter in seiner Kammer.

Gedankenversunken schlenderte sie durch die verrufeneren Gebiete von Dorsoduro. Die gewissen Häuser erkannte man an halb durchsichtigen wehenden Schleiern, mit denen die Fenster flüchtig verhängt waren. Manche Venezianer hatten hier auch eines der etwas heruntergekommeneren Casini angemietet, unter denen man sich von diskreten Wohnungen bis zu opulenten Zimmerfluchten alles vorstellen konnte. Orte, an denen der Mann von Welt sich ungestört einem nächtlichen Stelldichein hingeben konnte. Aus den Tavernen drangen, weniger elegant, Alkoholdunst und Gegröle, meist mit windschiefer Musikbegleitung.

Sie bog in eine Gasse die dunkel und menschenleer, an einem kleinen Kanal entlang, durch ein ruhigeres Viertel, in Richtung Süden zum Canale della Giudecca führte, als sie im Wasser neben sich ein vertrautes Plätschern hörte. Darauf hatte sie gewartet! Sie kauerte sich auf eine Treppe, die hinunter ins bleischwarze Wasser führte, als sich vor ihren Augen eine elegante, grün schimmernde Schwanzflosse erhob und plätschernd wieder verschwand. Einen Augenblick darauf tauchten ein Kopf und zwei Arme neben ihr auf und stützen sich auf die graue Steintreppe.

„Sirmea!" Milica war überrascht und gleichzeitig erleichtert. „Endlich. Ich hab die ganze Nacht darauf gewartet, dass ihr euch meldet. Wo ist Melsunia?" Nach ihrem letzten Erlebnis mit der anderen Sirene war Milica froh, stattdessen deren Schwester Sirmea zu treffen.

Die Sirene verdrehte die Augen und seufzte. „Wenn ich das wüsste. Sie war in letzter Zeit etwas ... seltsam, weißt du?"

„Das kannst du laut sagen", schnaubte Milica. „Was ist los mit ihr?"

„Das wüsste ich selbst gerne", raunte Sirmea. „Jedenfalls ist sie weg."

„Weg? Sie auch? Seit wann?"

„Seit ungefähr zwei Tagen. Meine Schwestern und ich hatten ausgemacht, dass wir ein Auge auf sie haben wollen, seit sie so ist. Sie hat es wohl geahnt, denn sie ist uns entwischt und hat sich nicht mehr blicken lassen." Die Sirenen nannten einander alle Schwestern, auch wenn Milica sich ziemlich sicher war, dass die Meisten nicht miteinander verwandt waren. Aber sie hielten zusammen, meistens zumindest.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt