Ein Mann war vom Kai ins Wasser gesprungen und ich konnte aus der Entfernung erkennen, wie er etwas, das nach einem Bündel Kleidern aussah, in ein Boot hievte, wo ein Zweiter es bereits in Empfang nahm und zu durchsuchen schien. Von der ganzen Aufregung angezogen näherte auch ich mich dem Auflauf, aber wie ich mich auch positionierte, immer versperrten mir Köpfe die Sicht. Ich konnte nur erahnen, dass der Fischer dort unten im Boot sich nun daran machte, das Bündel auseinanderzunehmen.
„Hab ich's doch geahnt", hörte ich jemanden sagen und der Mann vor mir bekreuzigte sich.
"Ist sie tot?", fragte ein anderer.
"Ewig schade drum, so ein schönes Mädchen!"
"Mausetot! Das siehst du doch, die rührt sich kein Stück mehr."
"Vielleicht eine von diesen Sirenen. Eine Venezianerin ist sie jedenfalls nicht", raunte es irgendwo.
"Unsinn! Sirenen haben Flossen und Schuppen an den Beinen. Das hat diese nicht."
Ich war es leid nichts sehen zu können und begann mir vorsichtig einen Weg durch die Menge zu bahnen. Als ich endlich freie Sicht auf das Boot hatte, konnte ich die darin befindliche Gestalt ganz genau erkennen.
"Milica!", entfuhr es mir.
"Kennen Sie die Frau?"
„Meine Cousine." In der Öffentlichkeit blieben wir bei diesen Verwandtschaftsbeziehungen. Das sparte lange Erklärungen und niemand erkundigte sich jemals nach dem genauen Familienstammbaum.
"Herzlichstes Beileid, mein Herr." Weitere Menschen bekreuzigten sich ehrfürchtig, ich nahm mit niedergeschlagener Miene und höflich dankend die Beileidsbezeugungen entgegen. Andere wiederum schauten mich skeptisch an. Wie konnte ein so feiner Herr wie ich eine Cousine haben, die dreckig und in zerrissenen Kleidern in der Lagune trieb? Das Gleiche fragte ich mich übrigens selbst.
Ich ließ mir von den hilfsbereiten Fischern ins Boot helfen. Eines musste man ihr lassen, sie hatte die Kunst eine anmutige Leiche zu spielen perfektioniert. Was immer sie hier und jetzt auch damit bezweckte. Ich kniete mich neben sie in das Boot und tat als befühlte ich ihren weißen Hals, der nun mit Dreck und Algen beschmiert war, nach einem Puls.
"Milica!", rief ich, und schüttelte ihre reglosen Schultern. Doch sie blieb, ganz die schöne Leiche, reglos auf dem hölzernen Boden des Fischerbootes liegen. Selbst in ihrer Zerlumptheit gereichte sie einer Ophelia zur Ehre. Natürlich war ich bemüht angemessene Verzweiflung in meine Stimme zu legen. Immerhin konnte ich mir vorstellen, dass Milica sich nicht ganz freiwillig in diese Lage gebracht hatte. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht ausmalen konnte, wie alles gekommen war, mein Instinkt sagte mir, es wäre für alle Beteiligten - also vor allem für mich und für Milica - das Beste diese Komödie vorerst mitzuspielen.
„Ein Chirurg muss her!", rief der junge Fischer, der sie in sein Boot gezogen hatte. „Hier kann nur noch ein Aderlass helfen. Mein Onkel ist letztes Jahr aus dem Boot gefallen und hat sich den Kopf angeschlagen. Eine halbe Ewigkeit ist er im Wasser getrieben. Aber dann wurde er zur Ader gelassen, das hat seine Lebensgeister wieder zurückgeholt. Der Aderlass und ein guter Schluck Buraneser Hausbrand."
„Ein Lob auf die Konstitution Ihres Onkels." Vor allem dafür, dass er von dem gepanschten Hausbrand nicht auch noch blind geworden war.
„Holt mir eine Gondel. Ich nehme sie mit heim und verständige meinen Hausmedicus", sagte ich und fügte mit tränenerstickter Stimme hinzu: „Und den Geistlichen werden wir wohl gleich dazu einladen müssen." Ich schluchzte ein wenig in mein spitzenbesetztes Schnupftuch, während ich Milicas kühle Hand umklammert hielt. Da gab sie mir plötzlich durch einen sanften Druck ihrer Finger zu verstehen, dass der nächste Teil der Darbietung gekommen war. Ich blickte unversehens in ihr Gesicht. Ihre Mundwinkel zuckten und sie mimte ein paar röchelnde Atemzüge.
„Milica! Mein Engel!", rief ich aus. Ich packte ihre Schultern, richtete ihre Gestalt ein wenig auf und tätschelte ihre Wangen. Sie hustete und spie etwas Wasser aus, ließ aber währenddessen eine gewisse Anmut nicht vermissen. Ihre Augenlider flackerten, sie rollte den Kopf hin und her, suchte meinen Blick und nachdem wir einander lange angesehen hatten, ließ sie sich wieder mit einem Seufzer ohnmächtig in meine Arme fallen.
„Sie ist gerettet!", rief ich mit allem der Situation geschuldeten Pathos, während der immer noch schockierte Fischer eine Decke um ihren nassen Körper wickelte. Ich drückte dem ungläubig Dreinblickenden zum Dank für seine Hilfe eine Zechine in die Hand, und er half mir, Milica in die soeben herangenahte Gondel zu heben. Ich nannte dem Gondoliere das Ziel und platzierte Milica ins Innere der Kabine. Ich winkte unserem staunenden Publikum noch einmal zu. Dann kroch ich zu Milica hinter den Vorhang, die mich nun vergnügt anlächelte.
„Dareios kann von dir noch einiges über das Trauerspiel lernen", sagte sie und obwohl ich selbstverständlich ihrer Meinung war, tat ich so, als hörte ich den leisen Spott in ihrer Stimme nicht. Ich setzte mich und wartete bis alle anderen endgültig außer Hör- und Sichtweite waren.
"Was ist in dich gefahren? So ein öffentliches Straßentheater hat uns gerade noch gefehlt", zischte ich leise genug, damit der Gondoliere nicht mithören konnte.
„Ich habe das nicht aus Langeweile gemacht, falls du das denkst", gab Milica in entnervtem Tonfall zurück. „Es gab keinen anderen Ausweg. Danke übrigens, dass du mich da rausgeholt hast. Immerhin konnte ich nicht wissen, dass du gerade in der Nähe sein würdest." Ja, ein seltsamer Zufall, dachte ich. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und wirkte ehrlich erschöpft.
„Was ist passiert? Ich verstehe das immer noch nicht."
„Ich wünschte, ich könnte es verstehen", seufzte Milica. „Können wir daheim drüber reden? Ich fühle mich ganz aufgeweicht und verknittert zugleich. Ich habe das Gefühl, stundenlang durchs Wasser getrieben zu sein. Ich will ein heißes Bad und vorher noch einen Schluck ... könntest du vielleicht so gut sein und ..."
Ich verstand sofort. Also erhob ich mich und dirigierte den Gondoliere in einen engen Seitenkanal, eine Sackgasse, die nicht direkt vor unserem Haus lag, jedoch nicht weit davon entfernt. Kaum dort angekommen verfiel ich in helle Aufregung.
"Zu Hilfe! So kommen Sie doch!", rief ich mit meinem Taschentuch wedelnd unter dem Verdeck der Kabine hervor. "Meiner Cousine geht es schlecht! Mon Dieu, sie stirbt mir weg ...!" Der arme Mann musste glauben, ich sei selbst einer Ohnmacht nahe und kam flugs herbeigeeilt. Ich schloss den schwarzen Vorhang hinter ihm und als er sich über die vermeintlich Dahinsiechende beugte, schlang sich unversehens ein schlanker, erstaunlich kräftiger Arm um seinen Körper. Der Gondoliere wusste wohl kaum, wie ihm geschah, da hatte er bereits ein Paar spitzer Zähne in seinem Hals. Während Milica sich an dem frischen Blut gütlich tat, verließ ich das Verdeck und behielt die Umgebung im Auge. Ein Blick an den nahezu fensterlosen Fassaden hinauf zum Himmel verriet mir, dass die Morgendämmerung nicht weit war. Es war eine wolkige Nacht gewesen, doch die Flecken zwischen den Wolken begannen sich bereits schwach zu erhellen.
Es dauerte nicht lange und eine sichtbar erfrischte Milica streckte ihren Kopf hinter dem Vorhang hervor. Ihr Gesicht war etwas blutverschmiert und ich reichte ihr mein Taschentuch, damit sie sich abwischen konnte. Gemeinsam machten wir uns daran, den besinnungslosen Gondoliere in der Kabine seiner Gondel bequem hinzulegen. Wir deckten ihn mit einer der sich hier befindlichen Decken zu und vertäuten das Gefährt beim Aussteigen am Ufer. Wenn er nach einem Weilchen wieder erwachte, würde er sich an nichts mehr erinnern. Vielleicht würde er glauben, er sei müde geworden und habe sich hingelegt. Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn Milica um die Schultern, damit sie in ihrem zerlumpten, vor Dreck starrenden, Zustand nicht sofort alle Blicke auf sich zog. Nicht, dass das viel Sinn hatte, bei den zerzausten Haaren voller Seetang und den bloßen Füßen. Allerdings hatten wir nicht weit und unser Weg führte uns durch nur spärlich bevölkerte Gassen.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...