Für den Moment wurde die Lesestunde allerdings unterbrochen. Ein Geräusch draußen auf der Treppe ließ sie hellhörig werden und gleich darauf stand Dareios im Türrahmen.
„Verzeiht, dass ihr warten musstet, ich habe Erkundigungen eingeholt und denke, ich bin der Lösung näher gekommen." Lajos nickte ernst, Ersilia blickte Dareios erwartungsvoll an und Milica ahnte, dass man sie gleich aus dem Raum komplimentieren würde. Ihr kam das ohnehin gelegen, denn es war langsam an der Zeit, dass sie hinaus ging, um sich zu versorgen. Außerdem sollte einmal jemand nach Elia sehen, der Junge schien schon ganz krank vor Sorge. Sie hatte ihm zwar empfohlen, nach hause zu gehen, aber das hatte er bestimmt nicht getan. Sie wusste nicht, wie sie ihn beruhigen sollte, aber vielleicht half es ihm zu wissen, dass sie sich der Sache nun annahmen. Und hatte Dareios nicht gesagt, dass er eine Lösung gefunden hatte? Sie fürchtete, dass diese Lösung nur Julien betraf und, dass es ihm und den Alten völlig egal war, ob ein kleines Mädchen spurlos verschwand. Aber wenn Juliens Zustand sich besserte, und er wieder zu sich kam, dann wusste er vielleicht, was zu tun war. Es konnte kein Zufall sein, dass Cassandra in derselben Nacht verschwunden war, in der Julien dieses Übel befallen hatte. Es musste einen Zusammenhang geben.
Sie würde Elia nach Hause schicken. Und dann würde sie sich neben Julien kauern und nicht mehr von seiner Seite weichen. Vermutlich half ihm das überhaupt nicht, aber sie selbst sehnte sich danach, bei ihm zu sein. Es war falsch, dass er so alleine in seiner Kammer lag. Sie wollte nur bei ihm sein und wenn er in der Lage war, irgendetwas zu wollen, dann wollte er doch bestimmt, dass jemand bei ihm blieb.
Sie war im Begriff sich aus der Bibliothek hinauszustehlen, als sie Dareios Hand spürte, die sich fest um ihren Unterarm legte.
„Du bleibst hier und hörst uns zu", sagte er. Sie blickte auf und sah ihm in die Augen. Er hatte sie noch nie aufgefordert zu bleiben, wenn er etwas von Belang mit den Alten besprach. Im Gegenteil. Er hatte sie immer weggeschickt, wenn es um wichtige Themen ging. Sollte sich das auf einmal ändern? Hatte er seinen Irrtum eingesehen oder fürchtete er, von den Alten dafür gemaßregelt zu werden, seiner Erziehungspflicht, oder wie immer man das nennen wollte, nicht nachgekommen zu sein? Sie legte den Kopf schief und fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Er nickte kurz, wie um seine Aussage zu bekräftigen, vielleicht in der Hoffnung, dass sie die Angelegenheit vor den Alten nicht weiter kommentierte.
„Komm, schließ die Tür und setz dich irgendwohin", sagte er schroff. Sie gehorchte und suchte sich einen bequemen Sessel in einer dunklen Ecke neben dem Himmelsglobus. Die Alten nahmen nebeneinander auf der Bank Platz und Dareios baute sich vor dem Kamin auf. Eine Pose, die ihm zweifellos gefiel.
„Lajos, Ersilia, danke, dass ihr gekommen seid, aber ich denke, ich habe die Frage schneller lösen können, als gedacht. Die kommenden Ereignisse könnten jedoch auch für euch von Interesse sein."
„Überheblich ist er", vermeldete Ersilia mit leicht ironischem Unterton, an niemand bestimmten gerichtet. „Da hat Milica nicht ganz Unrecht", fügte sie noch hinzu und Milica presste sich hinter dem Globus die Hand vor den Mund, um nicht hysterisch loszulachen.
Dareios überging die Bemerkung und setzte fort.
„Es verhält sich so, wie ich es im ersten Moment vermutet habe. Julien scheint von den Ombrei befallen worden zu sein." Milica umklammerte eines ihrer Beine und legte ihr Kinn auf das Knie. Die Neugier war nun stärker als ihr Ärger über Dareios' selbstgerechtes Gehabe.
„In Venedig haben sie sich eine ganze Weile nicht bemerkbar gemacht. In letzter Zeit scheint es jedoch wieder zu Fällen gekommen zu sein. In der Tat befindet sich eine Delegation der ‚Fraternità degli Ombrei' in der Stadt, um sich der Sache anzunehmen. Sie werden so bald wie möglich hier sein, um zu überprüfen, ob es sich mit Julien so verhält wie wir vermuten. Mit einem Amulett sollte die Sache schnell gelöst sein."
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Fiksi SejarahVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...