Mies gelaunt zog ich mich an, kroch ich aus meinem Verschlag und ließ mich in der Bibliothek nieder. Heute Abend erwarteten wir keine Gäste, die Räume lagen duster und nur von einigen Öllampen erleuchtet vor mir. Mir stand der Sinn nicht nach Oper oder Theater, und schon gar nicht nach Unterredungen mit meinen Mitbewohnern. Und obwohl unsere Bibliothek zweifellos sehr gut sortiert war, konnte ich mir im Moment nicht recht vorstellen, welche Lektüre imstande sein konnte meine Stimmung zu heben. Ich trat in den flaschengrün eingerichteten Raum, der selbst bei guter Beleuchtung noch dämmrig und schummrig wirkte. An den Wänden reihten sich hohe Regale aus dunklem Holz aneinander, in denen unsere Schätze lagerten. Bei unserer Lebensspanne konnte sich mit den Jahren eine beeindruckende Anzahl an Büchern anhäufen. Ich ließ meinen Blick über die ledernen Rücken schweifen, in der Hoffnung doch etwas zu finden, das mich ausreichend fesseln konnte, um mir die Zeit zu vertreiben.
Allerdings schwirrten mir immer noch die Fragen von gestern durch den Kopf. Fragen, auf die es in den hier vorhandenen, meist von Sterblichen verfassten Büchern wohl keine Antwort geben konnte. Oder vielleicht doch? Es war, als suchte man eine Nadel im Heuhaufen.
Einige der Regale waren mit Werken gefüllt, die sich aus fein geschwungenen, fremdartigen Schriftzeichen zusammensetzten. Dareios' ständig wachsende Sammlung. Griechisch, türkisch, arabisch, angeblich sogar persisch. In regelmäßigen Abständen statteten ihm befreundete Händler auf der Durchreise ihre Besuche ab und boten ihm seltene und ungewöhnliche Werke an. Diese Dinge zu lesen hatte er schließlich alle Zeit der Welt. Ich schritt fort zu den auf Latein, Französisch und Italienisch abgefassten Werken, mit denen ich mehr anfangen konnte. Die meisten davon hatte ich selbst angeschafft. Eine große Anzahl an Theaterstücken und Opernlibretti. Französische Komödien und Tragödien, ein paar Klassiker der römischen Komödie in lateinischer Sprache, Aischylos, Aristophanes und andere Griechen in unterschiedlichen Übersetzungen. Leider hatte ich es im altgriechischen nie weit genug gebracht, um diese Werke im Original genießen zu können. Ich besaß eine griechische Ausgabe der Poetik des Aristoteles und stellte mir manchmal vor, wie es wäre den verschollenen Band über die Komödie an einem versteckten Ort zu finden. Wer träumte nicht davon? Selbst Dareios hatte mir gestanden, er sei jahrelang auf der Jagd danach gewesen. Ohne Erfolg. Nicht, dass sich Dareios irgendetwas aus der Komödie machte, aber wenn es um verschollene Schätze und okkulte Geheimnisse ging, war er in seinem Element.
Vielleicht sollte ich mich doch wieder um mein griechisch bemühen. Die Ilias entfaltete gewiss erst im Original ihren wahren Reiz und selbst die beste französische Übersetzung würde der Poetik einfach nicht gerecht werden. Ich schritt fort zu den Werken in italienischer Sprache, sämtliche Bände der Göttlichen Komödie, sowie der Orlando Furioso wandten mir lockend ihre Rücken zu. Meine Lieblingsverse daraus konnte ich aus dem Gedächtnis vortragen.
Vielleicht sollte ich es doch mit etwas Modernerem versuchen. Mein Finger wanderte weiter in die venezianische Sektion. Goldoni? Nein, den sah man besser auf der Bühne und ... was war das hier eigentlich? Etwas war neben der „Mirandolina" nach hinten gerutscht. Immer diese Schlamperei. Ich nahm drei dickere Bücher aus dem Regal und fuhr mit der Hand nach hinten, um das fortgerutschte Büchlein herauszufischen.
Es war ein schlecht gebundenes Bändchen mit einer ungeschickt gezeichneten, nicht besonders originalgetreuen Ansicht Venedigs auf dem Deckel. „Unerhörte und wahre Geschehnisse aus der Geschichte der Serenissima". Das hatte Milica mit Sicherheit irgendwo aufgegabelt. Die konnte sich für solch sentimentalen und volkstümlichen Tand begeistern. Wenn sie schon sonst nicht viel las. Ich durchblätterte das Buch und überflog das Inhaltsverzeichnis. Die Geister der Dogen. Der rote Priester und der Teufel. Die Sirene und der Fischer ... das klang interessant. Vielleicht war es gerade das, wonach ich im Augenblick suchte. Ich konnte ja versuchen, dem berühmten Körnchen Wahrheit nachzuspüren, das in solchen Geschichten angeblich immer steckte. Möglicherweise brachte mir das den zündenden Einfall, wo ich weitersuchen sollte.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...