Milica schlug die Augen auf, langsam löste sich die Starre in ihrem Körper und sie streckte und dehnte vorsichtig ihre Arme und Beine. Es dauerte immer, bis sie sich wieder einigermaßen lebendig fühlte. So richtig lebendig, wie früher als Mensch, fühlte man sich nie, aber das war in Ordnung. Alles hatte schließlich Vor- und Nachteile und für Milica gab es keinen Zweifel daran, dass in ihrem Fall die Vorteile überwogen.
Das Ziehen in der Bauchwunde von Gestern erinnerte sie daran. Den Todeskampf und die Schmerzen hatte sie nicht spielen müssen, aber es war auch schnell wieder vorbei gewesen. Das Ziehen würde morgen nur noch ein lästiges Jucken sein und übermorgen würde man nicht einmal mehr einen roten Punkt sehen. Sie war zwar so gut wie unsterblich, aber nicht unverwundbar. Das war es wert. Eine Erinnerung an das Leben und daran, dass sie nie wieder schlechte Zähne haben würde.
Obwohl der Raum stockdunkel war, konnte sie ihre Umgebung zumindest in Grautönen erkennen. Sie hatte sich ihren Ruheraum schön und gemütlich eingerichtet. Auch wenn sie tagsüber in eine Art Totenstarre verfiel, so wollte sie sich zumindest die Bequemlichkeit gönnen, in einem richtigen Bett aufwachen. Damals in Kisilova hatte sie sich manchmal vorgestellt, wie es sein musste ganz alleine zu schlafen, anstatt mit allen Geschwistern zusammen in einem Bett, das bei der kleinsten Regung knarrte und man sofort irgendjemandes Ellbogen im Bauch oder ein Knie im Rücken hatte.
An der Wand ihres Raumes stand ein Schrank, der recht alt war und nichts Besonderes. Früher hatte er im alten Salon ein unbeachtetes Dasein gefristet, bis zu Juliens Entschluss, den Raum zu renovieren und nach der neuesten Mode einzurichten. Damit hatte er auch den Schrank loswerden wollen. Die Farbe war an den meisten Stellen abgeblättert und eine Lade klemmte, aber Milica hatte ihn schließlich retten können. Sie hatte ihm einen neuen hellgrünen Anstrich verpasst und ein paar Blumenranken aufgemalt, sogar die kaputte Lade hatte sie wieder hinbekommen. Juliens exquisitem Geschmack entsprach das vielleicht nicht, aber sie selbst war sehr zufrieden. In diesem Schrank bewahrte sie ihre Alltagskleidung auf. Einfache und einigermaßen bequeme Kleider, denn die trug sie immer noch am häufigsten.
Sie besaß zwar einige dieser komplizierten, voluminösen Roben, in die sie sich für Theaterbesuche, Abendgesellschaften oder gar Bälle widerwillig hineinzwängen ließ. Diese schönen Stücke waren jedoch in einem anderen Raum untergebracht, Gewänder, die man ohne fremde Hilfe gar nicht an- und ausziehen konnte. Glücklicherweise kamen die überdimensionierten Kleider und Perückenfrisuren in den letzten Jahren mehr und mehr aus der Mode. Das wusste sie vor allem deshalb, weil Julien es sich nicht nehmen ließ ihre schönen Kleider jede Saison von einem Schneider an die aktuellen Erfordernisse, wie er es nannte, anpassen zu lassen. Anfangs hatte er auch versucht, das mit Dareios' Garderobe zu tun, doch das hatte schließlich in einem Duell der Starrköpfe geendet und Julien beschränkte seine modischen Ratschläge für Dareios nun auf ein einigermaßen erträgliches Mindestmaß.
Wenn Milica die Wahl hatte, dann schlüpfte sie in eines der gewöhnlichen Kleider, in denen man sie vielleicht für die Frau eines Fischers oder eines Handwerkers halten konnte. Damit konnte sie sich in den Gassen Venedigs bewegen, ohne ungewollte Beachtung zu erregen. Das war angenehm und vor allem nützlich.
Milica schloss noch einmal die Augen und lauschte in die Dunkelheit. Draußen plätscherte das Wasser des Kanals, der den Palazzo umfloss. Das Kämmerchen lag im Erdgeschoss, direkt an der Wasseroberfläche. Das war ungewöhnlich und vor allem unpraktisch für einen Wohnraum in der Lagunenstadt, das hatte man ihr erklärt, aber sie hatte sich trotzdem durchgesetzt. Natürlich waren die Mauern manchmal etwas feucht, und manchmal kam das Hochwasser zum Fenster herein. Es handelte sich um eine einzelne nicht besonders große, jedoch recht tiefe Fensternische auf halber Höhe des Raumes. Sie kroch aus dem Bett und öffnete die inneren Fensterläden, dann die doppelten Glasfenster, das äußere aus dunkelgrünem, beinahe undurchsichtigem Glas, und dann die äußeren Fensterläden. Die doppelten Fensterläden und das dunkle Glas garantierten, dass tagsüber nicht das geringste Sonnenlicht in ihr Zimmer fiel.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...