Er näherte sich dem Palazzo seines sogenannten Onkels etwas zögerlich. Er wusste noch, wie es dort letztes Mal gewesen war und auch Giulios Verwandte, die er manchmal im Theater gesehen hatte, waren ihm etwas suspekt. Milica schien in Ordnung zu sein, aber diesem Dareios wollte er nicht unbedingt begegnen. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber der hatte so einen Blick, als wolle er einen durchschauen, nur um sich dann lustig zu machen. Selbst bei Rosinas Anblick war ihm weniger unbehaglich zumute. Er näherte sich dem Palazzo, der von außen recht schmal wirkte, im Inneren jedoch unglaublich verwinkelt und überraschend weitläufig war, wie er zuletzt mit seiner Schwester zusammen festgestellt hatte. Bestimmt konnte man sich da drinnen auch verlaufen. Von außen ließ sich das aus mehreren Teilen zusammengeschachtelte Gebäude jedenfalls kaum überblicken. Er bog vom Hauptweg ab und folgte dem schmalen Kanal, der unter einem Sottoportego, einem der Durchgänge, von denen es in Venedig hunderte gab, in eine Art Innenhof führte, von dem aus man in das Gebäude gelangte.
Die Eingangstür stand auch heute offen, vermutlich weil er bereits erwartet wurde. Eine Steintreppe führte zuerst ins Mezzanin, dann in den ersten Stock. Er hatte kaum den ersten Treppenabsatz erreicht, da kam Rosina schon mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugeschwebt. Wie eine feuchte Nebelwolke huschte sie durch ihn durch. Vermutlich war das eine Umarmung gewesen. Er lächelte und begrüßte sie, indem er wie selbstverständlich seine Grußworte unausgesprochen in Gedanken formulierte. Rosina lachte und schwebte um ihn herum.
Dein Vater wartet schon in der Bibliothek auf dich.
Als Elia sie verwundert ansah, erwiderte sie kurz seinen Blick mit ihren ausdruckslosen, durchsichtigen Augen, dann drehte sie sich um und schwebte voraus. Er folgte ihr und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sein Papa in Onkel Giulios Bibliothek machte. Bestimmt hatte Rosalia ohnehin Giulio gemeint und sich mit den Verwandtschaftsverhältnissen vertan. Was wusste ein Geist schon davon?
Elia war noch nie in Onkel Giulios Bibliothek gewesen und als er eintrat und versuchte, die Größe des Raumes zu erahnen war ihm das völlig unmöglich, da dieser, bis auf eine Lichtinsel in der Mitte, in Dunkelheit getaucht lag. Das Licht kam von einem mehrarmigen Leuchter, der auf einem mit Büchern überfrachteten Tisch stand. Onkel Giulio saß in einem Lehnsessel und schien in ein Buch vertieft. Er trug einen bestickten Hausmantel über seiner Kleidung und als Elia sich in die Tür zur Bibliothek stellte und klopfte, fuhr er zusammen, als habe ihn das plötzliche Geräusch überrascht.
"Guten Abend, Onkel Giulio," sagte er artig, woraufhin der Angesprochene in seine Richtung blickte und nickte.
"Schön, dass du hier bist. Komm herein und setz dich," sagte er und deutete in Richtung des zweiten Lehnsessels der neben dem Tisch stand. Elia tat wie ihm geheißen. Onkel Giulio hatte an der Stelle, wo er aufgehört hatte zu lesen einen Finger in das Buch geschoben. Elia versuchte, den Titel zu erspähen, konnte aber nicht so recht erkennen, worum es sich handelte. Eines von diesen modernen Pariser Theaterstücken war es jedenfalls nicht, dafür sah der Einband zu alt und zerfledert aus. Auf dem Tisch lag ein weiterer Stapel Bücher und es war nicht schwer zu erkennen, dass es sich dabei um französische Wörterbücher und Grammatiken handelte.
Onkel Giulio räusperte sich und sagte dann: "Also das wäre jetzt unsere erste Französischstunde." Seine Stimme klang irgendwie trocken und belegt.
"Ich habe Papier und Schreibzeug mit dabei", beeilte sich Elia, ihm mitzuteilen, einerseits um seine Nervosität zu überspielen und andrerseits, um zu zeigen, dass er vorbereitet war.
"Sehr schön", kommentierte Onkel Giulio ohne erkennbare Begeisterung. "Hast du von deiner Mutter gute Ratschläge bekommen, bevor sie dich losgeschickt hat? Bestimmt weiß sie, dass Goldoni ein alter Mann ist und den Tag an dem Elia Vesiano die französische Sprache beherrscht, vermutlich nicht mehr erleben wird."
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...