2. Kapitel (2/3) - Neue Erfahrungen

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Elia drückte die Seitentür zum Wohnhaus auf, das direkt an das Theater anschloss und wechselte einen kurzen Blick mit seiner Schwester. Beide nickten, es brauchte keine Worte. Lautlos huschten sie hinauf in den zweiten Stock, wo sie und ihre Eltern wohnten. Anhand der vielen Leute draußen auf dem Campo San Dionisio und der Gondeln, die sich auf den Kanälen rund um das Theater drängten, hatten sie erkannt, dass die Aufführung wohl gerade geendet hatte.

Bestimmt war Onkel Giulio gerade bei Mama, um sie zu verpetzen, und Papa kam nach der Vorstellung sowieso nie direkt in die Wohnung zurück. Es gab immer irgendein Compagniemitglied, das er zu maßregeln hatte, oder einen Mäzen, dem es Komplimente zu machen galt. Sie hatten also ausreichend Zeit, sich in ihre Betten zu schleichen und so zu tun, als wären sie längst im Land der Träume. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich auf diese Art aus der Affäre zogen. Bis zum nächsten Tag erschien die Sache, für die sie zur Rede gestellt werden sollten, den Eltern schon wieder halb so tragisch. Oder es hatte sich in der Zwischenzeit ohnehin eine dringlichere Katastrophe ereignet und im Haushalt eines Impresarios, oder eben dessen Theater mangelte es nicht an solchen.

Die Wohnung war großzügig bemessen. Es gab eine geräumige Küche mit offnem Herd, den Salon mit Pendeluhr, ein Speisezimmer, sowie Schlafkammern für das Komödiantenehepaar, die Kinder und eines für Lucia, die Magd. Wie auf Katzenpfoten schlichen die beiden sich an Lucias Tür vorbei, die gleich neben dem Eingang lag, damit sie sofort zur Stelle sein konnte, wenn jemand an die Türe klopfte. Die restlichen Schlafkammern lagen am anderen Ende des Wohnbereichs.

Sie schlüpften durch die Tür in die kleine Kammer und grinsten einander verschwörerisch zu. Sie hatten die Lampe in der Küche gelassen, aber durch das trübe Fensterglas drang genug Licht herein, sodass sie sehen konnten, was sie brauchten. Sie ließen die Waschschüssel unangetastet, legten ihre Kleider sorgfältig über einen Stuhl, zogen sich die Nachthemden über und krochen in ihre Betten.

Aber nach Schlaf war keinem der beiden zumute.

"Ich glaube Onkel Giulio, war gar nicht so richtig böse," zischte Cassandra schließlich. "Der war eher froh, dass er einen Vorwand hat, um Mama zu besuchen."

"Glaubst du?"

„Nein", kam es sehr bestimmt zurück. „Das weiß ich."

„Hm, bei den Erwachsenen weiß man nie ...", murmelte Elia nachdenklich. Onkel Giulio kam immer wieder zu Besuch, seit Elia sich erinnern konnte. Und er war kein richtiger Onkel, so viel stand fest. Mama sprach oft über ihn. Papa nicht so oft, aber er schimpfte oder witzelte auch nicht, so wie er es öfter tat, wenn er fand, dass Mama mit irgendeinem anderen Schauspieler oder einem Gönner zu freundlich tat. Nun ja, sie schienen einander alle schon ziemlich lange zu kennen und Papa schätzte Onkel Giulios Urteil. Denn, dass er etwas vom Theater verstand und mit seinen Ratschlägen schon das eine oder andere Spektakel gerettet hatte, stand fest.

„Wir müssen noch einmal dort rauf", hörte Elia die Stimme seiner Schwester aus der Dunkelheit.

„Spinnst du?"

„Wir dürfen uns halt nicht mehr erwischen lassen?"

„Ich weiß wirklich nicht, was du an dem alten Dachboden findest. Dort war es nicht einmal besonders interessant." Es war ein Dachboden, wie es hunderte gab. Elia konnte sich spannendere Orte vorstellen. Außerdem war ihm dort nicht ganz geheuer gewesen. Onkel Giulios Haus war als Ganzes irgendwie seltsam, doch gerade deshalb passte es zu ihm und diesen Verwandten, mit denen er dort wohnte.

"Du weißt genau, was dort ist. Du hast es auch gespürt."

Elia brummte zustimmend in sich hinein. Doch gleichzeitig spürte er, wie sein Puls schneller wurde und er fror, obwohl er sich bereits fest in die Bettdecke eingewickelt hatte. Er hatte auf dem Dachboden krampfhaft versucht, nicht darauf zu achten, aber es war das gleiche Gefühl gewesen, das ihn in dem Gang hinter der Uhr überkommen hatte. Es war lächerlich, vor etwas Angst zu haben, das gar nicht da war und sich dann so hineinzusteigern. Auf dem Dachboden hatte er es jedenfalls deutlich gespürt, aber dort war es ihm eher gelungen, sich zusammenzureißen und sich zu wappnen. Es war auch in keinem Moment so stockdunkel gewesen, wie hinter der Uhr.

„Ich will das nicht wieder spüren," sagte er schließlich.

„Aber warum denn nicht?", kam es von ihr so verständnislos zurück, dass er nicht wusste, was er antworten sollte. Bei Cassandra gab es nur schwarz oder weiß, ganz oder gar nicht. Aber das war vielleicht normal in ihrem Alter. Irgendwann würde sie gescheiter werden.

„Hat dir das gefallen?", fragte er vorsichtig. Wie konnte es sein, dass sie das Gleiche so unterschiedlich empfanden. Oder hatte sie etwas ganz anderes gespürt? Bestimmt hatten sie beide eben nur ihre eigenen Einbildungen und Fantasien.

„Was wir entdeckt haben, ist absolut genial", gab sie zurück. „Was wir seitdem alles erlebt und gesehen haben. Rosina zum Beispiel!"

„Ja, Rosina ..." Es war schon seltsam. Man durfte wirklich nicht zu viel darüber nachdenken.

„Hast du jemals zuvor einen Geist gesehen?", fragte sie.

„Nein", gab Elias zurück. Das Absonderlichste war gewesen, wie normal er es in dem Augenblick gefunden hatte, mit diesem Geistermädchen zu reden. Als träfe er jeden Tag Geister. Onkel Giulio hatte es auch gesehen. Vielleicht sollte man wirklich aufhören, sich über solche Dinge zu wundern.

„Du kannst Rosina ja einmal in die Vorstellung einladen", versuchte Elia zu scherzen. Wäre das Mädchen nicht so durchsichtig gewesen, hätte man es für ein Kind in Cassandras Alter halten können.

„Hör auf damit, du weißt genau, dass das nicht geht", gab Cassandra ärgerlich zurück. „Sie kann ja von Onkel Giulios Haus nicht weg."

Da wusste Cassandra wieder einmal mehr.

„Sie kann da nicht raus. Sie ist an das Haus gebannt", erklärte sie weiter.

„Ach, ja? Wann hat sie dir das gesagt. Ich war doch auch dort." Offensichtlich war Cassandra schon wieder dabei, sich irgendwelche dramatischen Geschichten zusammenzuspinnen. Nun ja, Mama unterstützte sowas. Blühende Fantasie war etwas, das dem Erfolg des Familienunternehmens nur zugutekommen konnte.

"Dir hat sie es auch nicht gesagt. Nur mir!", fügte Cassandra dann noch hinzu.

„Ja, gut", sagte Elia. Es hatte keinen Sinn, sich mit einem Kind über solchen Unsinn zu streiten. Von draußen hörten sie jetzt das Öffnen der Wohnungstür, gefolgt von den gedämpft redenden und lachenden Stimmen der Eltern. Er rollte sich zur Seite, schloss die Augen und versuchte einen friedlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt