9. Kapitel (2/5) Grausige Entdeckung

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Milica komplimentierte den Jungen in den Salon und überlegte, was sie mit ihm anfangen sollte. Dareios war soeben ausgegangen und Julien ...? Wusste der Teufel, wo der steckte. Es war nicht ungewöhnlich, dass er früher aufstand und die Nacht über wegblieb. Oft war er genauso geheimnistuerisch wie Dareios. Vielleicht waren sie das alle drei. Vielleicht lag das eben in ihrer nächtlich unsterblichen Natur.

Im Grunde kam Elia wie gerufen, um ihr die Zeit ein wenig zu vertreiben, bis die anderen wieder kamen. Bestimmt konnte sie ihn ein wenig ausfragen. Immerhin war sie durchaus neugierig auf Juliens Sohn und dessen menschliche Familie, und vor allem auf die Mutter des Jungen. Sie kannte alle vom Sehen, von flüchtigen Begrüßungen im Theater, manchmal trieben sie etwas freundliche Konversation, aber mehr nicht. Julien selbst erzählte nicht gerade viel. Sie überlegte, wie sie das Gespräch am besten beginnen sollte, doch da kam er ihr schon zuvor. Kaum hatte sie ihn in einen der gemütlichen Lehnsessel bugsiert und sich zu ihm gesetzt, da sprudelten die Worte schon aus ihm heraus:

"Meine Schwester ist verschwunden, sie lag heute Morgen einfach nicht in ihrem Bett." Er erzählte von der Suchaktion durch ganz Venedig, die seine Eltern veranstaltet hatten und es klang, als hätte er diese Geschichte heute schon unzählige Male erzählt. Sie bemerkte nun auch, dass er ziemlich mitgenommen aussah. Erschöpft und besorgt. Er hatte den ganzen Tag lang mit seinen Eltern und dem kompletten Theaterensemble nach seiner Schwester gesucht, und dann auch noch eine Vorstellung gespielt. Und jetzt war er hierher gelaufen, weil es ihm so dringend schien, ausgerechnet mit Julien darüber zu sprechen.

„Warum meinst du, dass er dir damit weiterhelfen könnte?", fragte sie schließlich. Das war der Punkt an der Geschichte, der sie skeptisch machte. „Du glaubst doch nicht, dass er etwas damit zu tun haben kann?"

„Nein, aber ... es gab da ein paar seltsame Sachen und ich weiß nicht, wer sonst so etwas verstehen könnte."

„So so ...", sagte sie, schlüpfte aus ihren Pantoffeln und zog die Beine unter sich, um bequemer zu sitzen. „Hältst du uns also für seltsam?" Sie gab sich Mühe ein wenig pikiert zu klingen. Doch davon schien Elia sich nicht irritieren zu lassen.

„Man kann das so nennen", sagte er. „Ihr seid einfach ganz anders. Zum Beispiel seid ihr die einzigen Leute, die ich kenne, die einen Hausgeist haben und gar nicht groß was dabei finden."

„Ach", entgegnete Milica mit einer wegwerfenden Handbewegung. „In Venedig gibt es sicher hunderte Häuser mit Geistern. Mach mir nicht weis, dass ihr in eurem Theater keinen habt."

„Manche behaupten das. Aber Theaterleute sind eben abergläubisch."

„Und wir sind das nicht, meinst du?" Was wusste sie schon vom Aberglauben der Leute? Damals in Kisilova hatten die Leute an alle möglichen Schauergeschichten geglaubt und nie bemerkt, was wirklich vor sich ging.

„Ich glaube, du schätzt uns nicht ganz richtig ein", sagte sie schließlich abwiegelnd. Nicht, dass er sich da zu viel einbildete. Das Brimborium, das Dareios gestern wegen dieses Buches veranstaltet hatte, trug sicher nicht dazu bei, dass der Junge das hier als einen alltäglichen venezianischen Haushalt wahrnahm. „Julien und Dareios tun manchmal furchtbar dramatisch, aber so anders als andere Leute sind wir gar nicht", versuchte sie dem Jungen zu erklären. Auch wenn sie wusste, dass das absolut keinen Sinn hatte. Elia hatte bereits einiges mitbekommen und würde früher oder später seine Schlüsse daraus ziehen. Doch im Moment saß er nur wie ein Häufchen Elend in seinem Sessel und sah noch blasser und bekümmerter als zuvor.

„Du fühlst dich nicht ganz wohl. Vielleicht solltest du doch nach Hause und dich ausschlafen", sagte sie besorgt. „Wenn wir war über deine Schwester erfahren, dann lassen wir es dich sofort wissen."

„Ich weiß nicht ...", murmelte er. „Ich habe nur so ein ganz komisches Gefühl, als wäre etwas schreckliches passiert ..."

Milica beugte sich vor und ergriff Elias Hand, so als könnte sie ihm dadurch die Zuversicht geben, die sie selbst gern gehabt hätte. Irgendwie machte sich auch bei ihr eine Art diffuser Ahnung breit. Und das kam nicht nur daher, dass sie versuchte, sich in den Jungen einzufühlen.

„Mach dir keine Gedanken. Du wirst sehen, alles geht gut aus", sagte sie und es gelang ihr dabei fast, sich dies selbst einzureden. Sie wollte die sich bei ihr einschleichenden Zweifel gar nicht erst zulassen.

„Dann wirst du mit deiner Schwester schimpfen, weil sie einfach so weggelaufen ist." In dem Augenblick richtete Elia sich auf und wandte sich von ihr ab. Er blickte in Richtung Tür.

„Aber was ist denn?", fragte er halb erstaunt, halb erschrocken. Milica fuhr von der Bank hoch, in der Annahme Julien sei endlich da, doch in dem Augenblick sah sie das Geistermädchen ins Zimmer schweben. Mit den zu langen Ärmeln seines zerfetzten Kleidchens wischte sich das Kind immer wieder über das Gesicht. So als müsste es Tränen fortwischen, aber Tränen konnte Milica keine erkennen. Konnten Geister überhaupt weinen? Das kleine Mädchen hatte jedenfalls den Gesichtsausdruck eines weinenden Kindes. Was konnte das nur bedeuten? Es schwebte auf Elia zu und umklammerte stumm dessen Arm.

Die beiden sahen einander lange an. Der Junge blickte drein, als lausche er gespannt dem, was das Mädchen ihm erzählte. Lautlos und ohne Worte. Das Kind bewegte nicht einmal die Lippen. Die Beiden schienen sich auf andere Art zu verständigen. Warum, dachte Milica, hatte dieses Geisterkind nie versucht, mit ihr zu sprechen. Immerhin lebten sie schon seit Jahren unter einem Dach. Sie war immer nett zu der Kleinen gewesen. Aber vielleicht fasste sie zu anderen Kindern leichter Vertrauen. Elia war zwar nicht mehr wirklich ein Kind, aber zumindest noch ein sehr junger Mensch. Vielleicht war dem Geist sein Menschsein auch weniger suspekt, als das, was Milica und ihre Hausgenossen waren.

Das Kind zerrte Elia am Arm, als wollte es, dass er mitkam. Er warf Milica einen Blick zu, und sie nickte nur. Das Geisterchen schwebte voraus, immer mit der halb durchsichtigen Hand an Elias Hemdsärmel und Milica folgte ihnen. Durch die schmalen verwinkelten Gänge des Hauses nach oben, bis sie an der Dachbodentür angekommen waren. Sie war schon ewig nicht mehr hier gewesen. Und was sollte sie hier auch? Hier lagerten alte Möbel und Kisten mit sonstigem Unrat. Spinnen, Ratten, Mäuse und sonstiges Ungeziefer konnten unbehelligt kreuchen und fleuchen.

Elia hüpfte geschickt die schmale Holztreppe hinter dem Geisterkind her, Milica hob ihren Rocksaum hoch und musste darauf achten, ihre Pantoffeln nicht zu verlieren, als sie vorsichtig hinter ihm her kletterte. Der Mond warf lichtgelbe Vierecke durch die Dachfenster auf die staubigen Bodenplanken. Milica hielt etwas Abstand, während ihre Finger sich in den Spitzenbesatz ihrer Ärmel verwickelten und diese malträtierten. Ein Hauch von Verbranntem durchzog den hier vorherrschenden Geruch nach Moder, Staub und sprödem Holz. Auch wenn sie bisher nichts Außergewöhnliches entdecken konnte, war sie sich mittlerweile sicher, dass etwas nicht stimmte.

Unvermittelt blieb der Junge vor ihr stehen und stieß einen kurzen beinah unhörbaren Laut aus. In Milicas empfindlichen Ohren klang es nach Ekel, als sei er über etwas erschrocken und angewidert. Sie sah, wie er sich zunächst vorbeugte, sich dann, eine Hand vor den Mund presste und sich abwandte. Gleichermaßen von Neugier und Anspannung getrieben kam Milica näher. Da lag etwas vor ihr auf dem Boden.

Es sah aus wie eine menschliche Gestalt, oder wie die vertrockneten Überreste einer solchen. Sie hatte ausgetrocknete Leichen in Grüften gesehen, die dieser Gestalt hier am ehesten glichen. Papierartige Haut spannte sich braun über die Knochen, die Augen waren halb geöffnet und gaben den Blick auf das vergilbte Innere frei. Zurückgezogene Lippen bleckten ein erstaunlich intaktes Gebiss. Ihr wurde eiskalt, als sie die spitzen Eckzähne sah, und es war, als legte sich eine eiserne Hand um ihren Hals.

Sie ließ sich auf die Knie fallen, um genauer zu sehen, um Gewissheit über das zu bekommen, was ihr mit einem Schlag bewusst wurde. Der bestickte seidene Mantel, der zu groß schien für diesen eingetrockneten Körper, das brüchige, weißlich gelbe Haar, das kaum noch an der pergamentenen Kopfhaut anhaftete. Sie legte ihre Hände auf die eingefallenen Wangen dieses Gesichts, das an einen Totenschädel erinnerte. Im gleichen Augenblick durchdrang ein entsetzlicher, rauer Schrei den engen Raum. Später wurde ihr bewusst, dass sie selbst es war, die geschrien hatte.

Die Musik auf dem Wasser - Historischer VampirromanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt