Eine gute Stunde später erklomm ich die Treppe zum Piano Nobile unseres Palazzo, dem ersten Stock, in dem die eleganten Salons lagen, und ich fühlte mich gestärkt. Die Gäste waren bereits fort. Die Empfangshalle lag im Dunkeln und an den Kandelabern klebte das erkaltete Wachs heruntergebrannter Kerzen. Nur am Ende des langgestreckten holzgetäfelten Raumes ließ sich ein aus dem burgunderroten Salon kommender Lichtschein vernehmen. Ich folgte dem behaglich anmutenden Flackern und fand, wie erwartet, Dareios und Milica vor, die es sich am wärmenden Kaminfeuer gemütlich gemacht hatten. Die unpassenden Sitzmöbel waren mittlerweile an ihre Ursprungsorte zurückbefördert worden und nun stand hier nur noch, was hergehörte. Das Ensemble des Raumes war wieder im Gleichgewicht und alles lag in warmes, gedämpftes Licht getaucht.
Milica lehnte in einen spitzenbesetzten Morgenmantel gehüllt auf der Chaiselongue. Selbst unsereins steckte so ein Loch im Bauch nicht innerhalb weniger Stunden weg. Dareios saß mit überschlagenen Beinen in einem Sessel daneben und es schien, als wäre ich soeben in eine Unterhaltung hineingeplatzt.
„Julien! Nächstes Mal bist du wieder dran", ächzte Milica, als ich den Salon betrat.
„Daran musst du mich nicht erinnern, ich hoffe, die Vorstellung war zu eurer Zufriedenheit. Ich habe das Ende noch gesehen, wurde dann allerdings fortberufen", entschuldigte ich mich für mein plötzliches Verschwinden nach dem Ende dieser Farce.
"Fortberufen?", schnaubte Dareios. "Gibt es interessantere Dinge, als unserem Triumph beizuwohnen?"
"Familienangelegenheiten."
Ein weiteres Schnauben folgte. Dareios hielt wenig davon, wenn unsereins eine sterbliche Familie hatte. Allerdings war er schon ein paar Jahrhunderte zu alt dafür und ich war geneigt, ihm seine Missbilligung als Neid auszulegen. Auch wenn er vielleicht Recht hatte. Sterblicher Anhang eröffnete die Möglichkeit zu einer Unzahl von Komplikationen, wenn man vor der Welt zu verheimlichen suchte, was man wirklich war.
„Warum lädst du sie nicht einmal zu uns ein?", fragte Milica neugierig. „Annalisa würde es bestimmt gefallen, wenn ich dir in den Bauch schieße. Das ist echtes Theater!"
„Vergiss es", sagte ich und ließ mich ebenfalls auf einem der burgunderroten Sessel nieder. Irgendwann hatte ich mich aus Übermut, Neugier oder meinem angeborenen Hang zur Dramatik überreden lassen bei diesem albernen Spiel mitzumachen. Allerdings gehörte zur Vereinbarung, dass sich keiner von uns dreien öfter als ein Mal im Jahr in den Bauch schießen ließ. Auch wenn so ein Schuss für uns nicht tödlich war und nicht einmal Narben hinterließ, so war er dennoch unangenehm und schmerzhaft und es dauerte bis zu drei Nächte, bis so etwas vollständig verheilt war.
Genaugenommen hatte ich mir das bisher erst einmal antun lassen. Besonders lange spielten wir dieses Schmierentheater noch nicht. Ich hoffte immer noch, dass den beiden die Sache bald langweilig wurde.
„Im Übrigen könntest du noch an deiner Vorstellung arbeiten, Dareios", merkte ich an. „Du bist in deinem Spiel überaus inkonsequent."
Seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. „Denkst du vielleicht, du machst das besser?"
„Allerdings", gab ich ohne jeden Hochmut zurück. Besser als Dareios zu sein, war schließlich keine große Kunst. „Gingest du öfter ins Theater, könntest du dir dort manches abschauen."
„Damit ich so spiele, wie du? Du fällst um, wie eine schreckhafte Nonne!"
Ich hatte nicht die geringste Lust mich über die Beleidigungen eines ahnungslosen Dilettanten zu ärgern. Es mochte schon sein, dass ich im Vampirsein noch nicht viel Erfahrung gesammelt hatte, jedoch wenn es etwas gab, bei dem ich mich als Kenner bezeichnen konnte, so war es das Theater.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Ficción históricaVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...