„Und jetzt zu Julien. Hoffentlich funktioniert dieses Amulett auch bei ihm so reibungslos," trieb Dareios den Rest der Gruppe an, während die Annalisa, ihr Sohn und Signora Manfridi in Richtung Schlafzimmer abmarschierten.
„Aus Ihren Erzählungen schließend hege ich keine großen Hoffnungen. Sie sagen, er sei seit Tagen in diesem Zustand? Die Ombrei höhlen mit der Zeit die Seele eines Menschen aus, bis nichts mehr übrig ist. Dann können selbst wir nichts mehr tun."
„Die Seele eines Menschen, naja ...", kommentierte Dareios. Milica fragte sich, ob er davon ausging, dass das bei Vampiren vielleicht anders war. Ob Vampire tatsächlich eine Seele hatten war umstritten. Was auch immer es war, das man unter einer Seele verstehen mochte.
„Einen Fall, wie sie ihn geschildert haben, hatten wir noch nie. Ich kann für überhaupt nichts garantieren," erklärte Bartolomeo Sala. Was Dareios ihm wohl erzählt hatte? Wie sie ihn kannte wohl nur das Allernötigste und auch das nur in angepasster Form. Sie bezweifelte stark, dass der Mann ahnte, dass er es hier mit Vampiren zu tun hatte. Dareios hatte nicht die Angewohnheit, dies jedem Wildfremden auf die Nase zu binden, eher im Gegenteil. Schon gar nicht wenn der Wildfremde auch noch Mitglied einer Bruderschaft war, die wer weiß was im Schilde führte.
„Sie sind aber auch der personifizierte Optimismus. Vorhin hat das doch sehr gut geklappt."
„Das können Sie nur sagen, weil Sie über die Materie nicht die geringste Kenntnis verfügen." Dareios warf Milica einen vielsagenden Blick zu und sie musste sich ein Grinsen verkneifen. Anscheinend hatte er beschlossen, dass sie gegen diesen Burschen zusammen hielten. Dareios schien es ebenfalls kaum erwarten zu können, gleich zu sehen, wie Julien erlöst wurde. Milica hoffte, dass dies nicht nur mit seinem intellektuellen Ehrgeiz zusammen hing.
Kurz darauf hatten sie sich zu fünft in Juliens winziges Schlafgemach gequetscht und dem menschlichen Besucher zuliebe, der nicht über so ausgeprägte Nachtsicht verfügte, einige Kerzen angezündet.
„Kann es sein, dass er etwas ... frischer ausieht?", flüsterte Dareios ihr zu. Milica zuckte mit den Schultern. „Kann schon sein, ich habe ihm zu trinken gegeben und sein Appetit wird immer besser." Dareios nickte anerkennend. Milica fühlte sich ganz aufgekratzt. So musste sich ein Mensch fühlen, der ein paar Gläschen Sekt getrunken hatte. Leider hatte es in Kisilova nie Sekt gegeben, also hatte sie diese Erfahrung zu Lebzeiten nie machen können.
Sie sahen zu, wie Borromeo Sala einen weiteren Samtbeutel aus seiner Tasche nahm und noch eine Silberkette mit durchsichtigem Steinanhänger zum Vorschein brachte. Diese Kette legte er Julien in gewohnter Manier um den Hals.
Dann warteten sie – und nichts geschah.
Hatte Milica sich die ganze Zeit nur eingebildet, dass er das Blut getrunken hatte? Sie hockte sich neben das Bett und nahm verzweifelt Juliens Hand, die sich immer noch totenkalt anfühlte.
„Nun, ich hatte Ihnen gesagt, dass sie sich kein Wunder erwarten sollen. Allerdings dauert es manchmal ein Weilchen, bis es wirkt. Wenn Sie mich fragen, besonders viel Hoffnung habe ich in diesem Fall hier nicht. Mit Verlaub, er sieht ziemlich tot aus. Der Anblick erinnert mich an die Überreste der Heiligen Lucia, und die lebt seit dem vierten Jahrhundert nicht mehr."
„Ihr Humor gefällt mir, Sior Sala. Aber lassen Sie das unsere Sorge sein. Sollte er wirklich so mausetot sein, wie Sie sagen erhalten Sie ihr Amulett selbstverständlich alsbald wie möglich zurück."
Borromeo Sala sah ihn nur verständnislos an. Er schien Dareios' Sinn für Humor ganz und gar nicht zu teilen, wobei Humor im allgemeinen nicht zu seinen Stärken zu zählen schien. Zugegeben, gestern noch hätte Milica Dareios für solche Witzeleien noch eine Ohrfeige verpassen können, doch in ihrer heutigen überdrehten Stimmung, musste sie sich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Was überhaupt nicht angebracht gewesen wäre.
„Ich werde hierbleiben, um zur Stelle zu sein falls ... sagen wir etwas Unerwartetes eintritt. Man kann nie wissen, ..."
Irgendwie war die Schwarzseherei dieses Menschen schon wieder aufmunternd. Es konnte fast nur besser kommen, als der es prophezeite. Und somit beschloss man die Versammlung in Juliens Schlafkammer aufzuheben und sich in die Bibliothek zurückzuziehen. Milica erklärte, sie hätte für heute genug von den Ombrei. Sie wollte nichts anderes, als bei Julien bleiben, um etwaige Veränderungen als Erste feststellen zu können. Sie sah es Dareios an der Nasenspitze an, dass er den Gast gerne noch weiter über die feineren Details zu den Ombrei ausgequetscht hätte. Wenn man schon einen gründlichen Kenner im Haus hatte, der noch dazu selbst von dem Übel befallen war. Doch dieser wusste sich etwaigen Anfragen geschickt zu entziehen, indem er auf die Uhrzeit verwies und Signora Manfridi bat, sie möge ihm sein Zimmer zeigen. Den Tee mit Rum lehnte er höflich dankend ab.
Nachdem alle die Kammer verlassen hatten, schloss Milica eilig die Schranktür und widmete sich wieder Julien. Sie bot ihm etwas Blut an und er trank. Diesmal war es bestimmt keine Einbildung. Sie fühlte sich ziemlich ausgelaugt, als er fertig war. Und seine Haut schien noch weniger zerknittert als vorhin. Zufrieden löschte sie die Kerzen und kuschelte sich neben ihn. Dass sein Arm auf ihre Schulter wanderte, bekam sie schon nicht mehr mit.
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Die Musik auf dem Wasser - Historischer Vampirroman
Historical FictionVampire ohne Schmalz und ohne Glitzer. Venedig, 1782 Julien ist seit etwa fünfzehn Jahren ein Vampir. Er glaubt verstanden zu haben, was das bedeutet und genießt sein Leben im Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wo die Nächte hell erleuchtet s...